Rz. 65

Das FA ist nicht verpflichtet, den steuerlich maßgeblichen Sachverhalt in alle Verästelungen zu erforschen. Es kann unter Berücksichtigung aller Grundsätze und Kriterien des § 88 Abs. 2 AO anhand des bereits feststehenden oder mutmaßlichen Sachverhalts abwägen, ob es die weitergehende Notwendigkeit zu ergänzenden Ermittlungen gibt.[1]

 

Rz. 66

Im Rahmen der Beachtung der Grundregeln des § 85 AO und des verfassungsrechtlich vorgegebenen Verhältnismäßigkeitsprinzips kann die Finanzbehörde auf ihre allgemeinen Erfahrungen in vergleichbaren Fällen zurückgreifen und zwischen ihrem Aufklärungs- und Zeitaufwand einerseits und den zu erwartenden steuerlichen Mehreinnahmen andererseits abwägen und dies in einen angemessenen Ausgleich bringen.[2] Dabei darf kein Prinzip auf Kosten eines anderen Prinzips derart gewichtet werden, dass ein Prinzip faktisch leer läuft.[3]

 

Rz. 67

Dies schließt eine unterschiedliche Gewichtung der zu beachtenden Prinzipien aber nicht aus. Eine Gleichrangigkeit aller zu berücksichtigenden Prinzipien würde dem Gebot der gleichmäßigen und gesetzmäßigen Steuerfestsetzung und Steuererhebung zuwiderlaufen können. Den Wirtschaftlichkeitserwägungen kommt gegenüber der Gleich- und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung relativ gesehen nur ein Sekundärwert zu.[4] In der Gewichtung stecken die Fundamentalprinzipien der Gleichmäßigkeit und der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung den Rahmen ab, innerhalb dessen dem Kontrollbedürfnis angemessene Wirtschaftlichkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen zu berücksichtigen sind.[5]

[1] Klein/Rätke, AO, 17. Aufl. 2023, § 88 Rz. 29.
[2] Klein/Rätke, AO, 17. Aufl. 2023, § 88 Rz. 27 m. w. N.; Baum, in eKommentar, § 88 AO Rz. 30.
[3] Baum, in eKommentar, § 88 AO Rz. 30.
[4] Drüen, in HHSp, AO/FGO, § 88 AO Rz. 263; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 88 AO Rz. 15.
[5] Baum, in eKommentar, § 88 AO Rz. 30; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 88 AO Rz. 6.4.

3.2.4.1.1 Ermessenstiefe/-regeln

 

Rz. 68

Bei der Abwägung der weiteren Aufklärungsbedürftigkeit ist das FA im dargestellten Rahmen (Rz. 65ff.) an die Ermessensregeln des § 5 AO gebunden. Das FA verletzt seine Aufklärungspflicht dabei jedenfalls dann, wenn es offensichtlichen Zweifelsfragen nicht nachgeht, die sich ihm den Umständen nach ohne weiteres aufdrängen mussten und die leicht aufzuklären wären, ohne dass aber die Anforderungen an das FA im steuerlichen Massenverfahren überspannt werden dürfen.[1]

Rz. 69 einstweilen frei

[1] Ähnl. Klein/Rätke, AO, 17. Aufl. 2023, § 88 Rz. 29 m. w. N.

3.2.4.1.2 Ausprägung und Grenzen der Ermittlung

 

Rz. 70

Grundsätzlich hängen der Umfang und die Ausprägung der Ermittlungen von der Aufklärungsbedürftigkeit des Sachverhalts ab. Aufgrund der verschiedenen partiell gegenläufigen Rechtsgrundsätze kann es im Einzelfall aber zu einer Einschränkung des Prüfungsumfangs kommen.[1]

 

Rz. 71

Die Wahl der Beweismittel muss verhältnismäßig sein (vgl. Rz. 35). Es dürfen deshalb nur diejenigen Beweismittel herangezogen werden, die für die Ermittlung des Sachverhalts erforderlich, verhältnismäßig i. e. S., erfüllbar und zumutbar sind. Obwohl die Sachaufklärung der gleichmäßigen Besteuerung dient, ist im Steuerrecht ebenso wie im Strafrecht eine Sachaufklärung um jeden Preis nicht zulässig. Verletzt eine Sachaufklärungsmaßnahme Grundrechte, zieht dies regelmäßig ein Verwertungsverbot nach sich (vgl. Rz. 82f.).

 

Rz. 72

Die Behörde muss die Beeinträchtigung der beteiligten Personen durch die Ermittlungstätigkeit möglichst gering halten, unnötige Beweiserhebungen vermeiden und stets das mildeste Beweismittel einsetzen.[2] Ferner hat die Sachverhaltsermittlung dort zu enden, wo weitere Bemühungen der Behörde im Verhältnis zum Erfolg nicht mehr vertret- und zumutbar sind. Erfolg i. d. S. ist aber nicht die steuerliche Auswirkung, sondern die Gewinnung verbesserter Erkenntnis über die Tatsachen. Hat der Beteiligte z. B. einen unbegründeten Rechtsbehelf eingelegt, so braucht die Behörde nicht erneut Ermittlungen anzustellen, sondern kann sich auf die Überprüfung des Verwaltungsakts nach Aktenlage beschränken.[3] Diesen allgemeinen tatsächlichen und rechtlichen Grenzen der Ermittlungstätigkeit versuchen die typisierenden Verwaltungsanweisungen über die Art und den Umfang der Prüfung steuerlicher Sachverhalte Rechnung zu tragen (vgl. Rz. 2).

 

Rz. 73

Grenzen der Ermittlungstätigkeit – und damit Minderungen des Beweismaßes – ergeben sich auch aus der verfassungsrechtlichen Garantie des Schutzes der Menschenwürde[4] und der Intimsphäre.[5] Diese Grundrechtsgarantien haben einige einfachgesetzliche Normen wie §§ 30, 102 AO, § 136a StPO im Blick. Aus der Verpflichtung zur vollständigen Untersuchung folgt aber, dass die Finanzbehörde auch Tatsachen aufzuklären hat, die im engsten persönlichen oder familiären Bereich liegen oder die Intimsphäre berühren. Diese Bereiche schaffen daher nicht per se einen ermittlungsfreien Raum. Es muss aber einen hinreichenden Anlass für die Ermittlungen geben. Die Anforderungen an den Anlass sind umso größer, je intensiver die Maßnahme in den Kernbereich des grundrechtlich geschützten Bereichs eing...

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