Rz. 26

Das FA entscheidet nach § 88 Abs. 2 S. 1 1. Halbs. AO nach pflichtgemäßem Ermessen, wie und auch in welchem Umfang es ermittelt.[1] Hierbei ist die Finanzbehörde grundsätzlich verpflichtet, die beweiserheblichen Tatsachen soweit aufzuklären, dass sie sich über deren Vorliegen oder Nichtvorliegen eine eigene Überzeugung bilden kann. Wann das erforderliche Maß an Gewissheit erreicht ist, hängt vom Einzelfall und den Gesamtumständen ab. Die Finanzbehörde muss nicht sämtliches Vorbringen der Beteiligten auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüfen und entsprechenden Beweis erheben. Plausibel erscheinende Behauptungen oder Angaben dürfen vielmehr der Entscheidung zugrunde gelegt werden, sofern sich auch im Übrigen kein vernünftiger Anlass zu Zweifeln ergibt.[2]

 

Rz. 27

Bisher gab es eine Grundsatzdiskussion zum Grad der notwendigen Aufklärung des Sachverhalts. Der Untersuchungsgrundsatz des Abs. 1 besagt lediglich, dass der Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln ist. Er besagt jedoch nicht, bis zu welchem Grad der Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit die Sachverhaltsermittlung zu erfolgen hat. Zu diesem sog. Beweismaß enthält die AO keine explizite Regelung (Rz. 82). Aus der Aufgabenzuweisung des § 85 AO folgt jedoch, dass die Besteuerung nach Maßgabe der Gesetze, d. h. in "strikter Legalität"[3], zu erfolgen hat. Die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung ist aber nur dann gewährleistet, wenn dem zutreffend ermittelten Gesetzestatbestand auch der zutreffende Sachverhalt zugeordnet wird. Dieser muss deshalb im Grundsatz mit Bestimmtheit feststehen.[4] Zu diesem Zweck enthält § 92 AO für die Sachverhaltsermittlung einen Beweismittelkatalog. Der Sachverhalt ist danach grundsätzlich zu beweisen. Hier ist aber zu berücksichtigen, dass das FA im Rahmen seiner Ermittlungen und Überzeugungsbildung über den tatsächlichen steuerlich maßgebenden Sachverhalt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten hat.[5] Schon deshalb kann es nicht in jedem Einzelfall zwingend sein, einen Überzeugungsgrad zu schaffen, der den Sachverhalt als mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit und keinen vernünftigen Zweifel zulassend erscheinen lässt. Die relevanten tatsächlichen Verhältnisse müssen nicht zwingend zur vollen Überzeugung des zuständigen Entscheidungsträgers festgestellt werden, es reicht m. E. vielmehr aus, dass sich der im Einzelfall der Besteuerung zugrunde zu legende Sachverhalt für den Entscheidungsträger des FA als im Rahmen verhältnismäßiger Erkenntnisgewinnung und den entsprechenden Ermittlungsmaßnahmen mit einem ausreichenden Maß an Wahrscheinlichkeit als zutreffend darstellt.[6]

Mit den die Grundregel des Abs. 1 einschränkenden Abs. 2ff. dürfte dieser Streit m. E. zugunsten der relativierenden Auffassung geklärt sein.

 

Rz. 28

Ein zu absolut gesetztes Beweismaß ist in Bezug auf die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung allenfalls ein Idealmaß. Es ist im Besteuerungsalltag nur sehr begrenzt zu verwirklichen. Zum einen ist das Besteuerungsverfahren ein Massenverfahren mit Myriaden von Einzelsachverhalten. Diese sind schon aus tatsächlichen Gründen – z. B. der Sachmittel- und Personalausstattung der Finanzverwaltung oder der Komplexität des Steuerrechts – nicht in Gänze verifizierbar. Zum anderen ist die konkrete Ermittlungstätigkeit in das pflichtgemäße Ermessen der Finanzbehörde gestellt[7], die damit an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden ist. Der behördlichen Ermittlungstiefe bzw. der Intensität der Nachprüfung sind damit durch das Übermaßverbot auch rechtlich Grenzen gesetzt. Ein Mittel zur weiteren Aufklärung eines steuerlich relevanten Sachverhalts darf danach nicht eingesetzt werden, wenn die davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für die betroffene Person schwerer wiegen, als die durchzusetzenden Allgemeininteressen.[8] Das am Einzelsteuergesetz orientierte Gebot der Gesetzmäßigkeit wird insofern durch das allgemeine Prinzip der Verhältnismäßigkeit relativiert.

 

Rz. 29

An der Forderung der absolut gesetzt größtmöglichen Realisierung der Gesetzmäßigkeit im Einzelfall ist deshalb nicht festzuhalten. Ein realistischerer und belastbarerer am Gleichheitssatz messbarer Maßstab in den periodisch wiederkehrenden steuerlichen Massenverfahren ist vielmehr die größtmögliche Realisierung der Gesetzmäßigkeit im Gesamtvollzug, d. h. in der Summe aller Einzelfälle. Im steuerlichen Massenverfahren kann die Finanzbehörde ihren Verifikationsauftrag a priori nur durch ein am strukturellen Kontrollbedürfnis der Fälle ansetzendes Risikomanagement erfüllen.[9]

 

Rz. 30

Ein geringeres Maß an Wahrscheinlichkeit genügt in den Fällen, in denen das Gesetz nur eine Glaubhaftmachung voraussetzt.[10] Hier reicht die überwiegende Wahrscheinlichkeit aus, wobei die Möglichkeit des Gegenteils nicht ausgeschlossen zu sein braucht.

[1] BFH v. 18.10.2009, VIII R 78/05, BStBl II 2010, 455 Rz. 21; Klein/Rätke, AO, 17. Aufl. 2023, § 88 Rz. 20.
[2] Vgl. Rz. 37, 181; Ramsauer, in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 24. Aufl. 2023, § 24 Rz. 21.

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