Rz. 101

Begehrt der Stpfl. nach dem Abschluss des Einspruchsverfahrens eine Aufhebung oder Änderung eines angefochtenen Steuerbescheids aufgrund von Tatsachen oder Beweismitteln, die zuvor nicht innerhalb der von der Finanzbehörde nach § 364b Abs. 1 AO gesetzten Ausschlussfrist vorgebracht worden sind, stellt sich die Frage, ob die Ausschlusswirkung auch außerhalb des Einspruchsverfahrens bei der Anwendung der Änderungsvorschriften nach §§ 172ff. AO zu berücksichtigen ist.

Die weit h. M. bejaht das, weil die Ausschlusswirkung des § 364b Abs. 2 AO nur innerhalb des Einspruchsverfahrens zur Anwendung kommt.[1]

Teilweise wird jedoch vertreten, die Ausschlusswirkung erfasse auch auf die Änderungsvorschriften nach §§ 172ff. AO. Da die Ausschlusswirkung des § 364b Abs. 2 AO dazu führe, dass die angefochtenen Steuerbescheide ohne Berücksichtigung der verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel rechtmäßig seien, komme ihre Änderung nicht mehr in Betracht.[2]

Dem ist jedoch nicht zu folgen. Zwar ist der Wortlaut des § 364b Abs. 2 Satz 1 AO allgemein gefasst. Danach sind die verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel "nicht zu berücksichtigen". Die Vorschrift findet sich aber im Siebenten Teil der Abgabenordnung über das Außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren, was nahelegt, dass sie auch nur für das Einspruchsverfahren gilt.[3] Hierfür spricht auch, dass § 172 Abs. 1 Satz 3, 2. Halbsatz AO die Fortgeltung der Ausschlusswirkung in einem Verfahren über einen Antrag auf schlichte Änderung nach Ergehen der Einspruchsentscheidung als einzige Vorschrift außerhalb des Siebenten Teils ausdrücklich anordnet.[4] Schließlich ist dieser Auffassung nicht zu folgen, weil der angefochtene Steuerbescheid ungeachtet des Umstands materiell rechtswidrig ist, dass § 364b Abs. 2 Satz 1 AO die Nichtberücksichtigung der nach Ablauf der Ausschlussfrist vorgebrachten (rechtserheblichen) Tatsachen und Beweismittel anordnet.[5]

 

Rz. 102

Nach § 172 Abs. 1 Satz 3, 2. Halbsatz AO dürfen bei der Bescheidung eines Antrags auf schlichte Änderung, der innerhalb der Klagefrist nach Ergehen einer Einspruchsentscheidung gestellt wird, Erklärungen und Beweismittel nicht berücksichtigt werden, die nach § 364b Abs. 2 AO in der Einspruchsentscheidung nicht berücksichtigt wurden.

Die Vorschrift erweitert die Ausschlusswirkung des § 364b Abs. 2 AO auf das Verfahren über Anträge auf schlichte Änderung nach dem Ergehen einer Einspruchsentscheidung, betrifft aber eben auch nur dieses. Sie hindert die Finanzbehörde nicht daran, in einem finanzgerichtlichen Klageverfahren einen Abhilfebescheid nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a) letzte Alternative AO zu erlassen.[6]

 

Rz. 103

Sind die mit dem Einspruch angefochtenen Steuerbescheide nach § 164 Abs. 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig ergangen, können sie, solange der Vorbehalt der Nachprüfung besteht oder soweit die Steuer vorläufig festgesetzt ist, aufgehoben oder geändert werden. Die Ausschlusswirkung des § 364b Abs. 2 AO steht der Änderung nicht entgegen.[7] Ein Vorbehalt der Nachprüfung lässt damit die Wirkung des § 364b AO leer laufen. Aus diesem Grund sind die Finanzbehörden angewiesen, den Nachprüfungsvorbehalt spätestens mit der Fristsetzung aufzuheben.[8]

 

Rz. 104

Einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 AO steht regelmäßig entgegen, dass die verspätet, aber vor Ergehen der Einspruchsentscheidung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel nicht nachträglich bekannt geworden sind.[9]

Nach dem Erlass der Einspruchsentscheidung bekannt werdende Tatsachen und Beweismittel können zwar zulasten des Stpfl. nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO berücksichtigt werden. Eine Änderung zu seinen Gunsten wird jedoch regelmäßig daran scheitern, dass den Einspruchsführer ein grobes Verschulden an dem verspäteten Vorbringen trifft. Anderenfalls wäre ihm auch eine Wiedereinsetzung nach § 364b Abs. 2 Satz 3 AO zu gewähren.[10]

 

Rz. 105

Ob die verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel im Rahmen einer Kompensation nach § 177 AO berücksichtigt werden können, ist umstritten. Nach § 177 Abs. 1 und 2 AO können, soweit eine Vorschrift zur Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids einschlägig ist, zugunsten und zuungunsten des Stpfl. solche materiellen Fehler berichtigt werden, die nicht Anlass der Aufhebung oder Änderung sind. Materielle Fehler sind nach § 177 Abs. 3 AO alle Fehler einschließlich offenbarer Unrichtigkeiten i. S. d. § 129 AO, die zur Festsetzung einer Steuer führen, die von der kraft Gesetzes entstandene Steuer abweicht.

Entgegen der Auffassung, wonach die Steuerfestsetzung im Hinblick auf die nicht berücksichtigten Tatsachen und Beweismittel schon alleine wegen der Ausschlusswirkung rechtmäßig ist[11], ist diese Voraussetzung erfüllt. Soweit die nicht berücksichtigten Tatsachen und Beweismittel rechtserheblich sind, liegt ein materieller Fehler bei der Steuerfestsetzung vor, der nach § 177 AO berichtigt werden kann.[12]

Rz. 106–110 einstweilen frei

[1] BT-Drs....

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