Rz. 17

Der Einspruch ist eine verfahrensrechtliche Willenserklärung, deren Auslegung entsprechend der §§ 133, 157 BGB zu erfolgen hat. Die Erklärung ist aber nur dann der Auslegung bedürftig und fähig, wenn es ihr an einem eindeutigen und zweifelsfreien Inhalt hinsichtlich des Gewollten fehlt.[1] In einem solchen Fall ist nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der wirkliche Wille des Stpfl. zu erforschen. Entscheidend ist dabei zunächst, wie die Finanzbehörde als Empfänger der Erklärung deren "objektiven Erklärungswert" verstehen musste.[2] Neben dem nicht eindeutigen Wortlaut der Erklärung sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, ohne dass einem bestimmten auslegungserheblichen Merkmal von vornherein ein Vorrang beizumessen ist.[3] Es sind insbesondere auch außerhalb der Erklärung liegende Umstände zu berücksichtigen.[4] Die Behörde ist u. U. verpflichtet, den Erklärenden zur Präzisierung aufzufordern.[5]

 

Rz. 18

Bei der Auslegung des Einspruchs ist außerdem das verfassungsrechtliche Gebot zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG zu beachten.[6] Dieses verlangt eine rechtsschutzgewährende Auslegung von Rechtsbehelfen.[7] Der Rechtsbehelf ist danach so auszulegen, dass dasjenige gewollt war, das nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage der Kläger entspricht.[8] Die Auslegung kann somit durchaus "erfolgsorientiert" erfolgen.[9] Ggf. kommt sogar – entsprechend der Regelung in § 140 BGB – eine Umdeutung einer Erklärung in Betracht, um entgegen dem Wortlaut der Erklärung dem wirklich Gewollten Rechnung zu tragen.[10] Andererseits darf die Auslegung auch nicht zu der Annahme eines Erklärungsinhalts führen, für den sich in der Erklärung selbst oder aus den Umständen überhaupt keine Anhaltspunkte finden lassen.[11]

 

Rz. 19

Eine derartige rechtsschutzgewährende Auslegung ist auch dann geboten, wenn der Stpfl. durch eine rechtskundige Person, also z. B. einen Rechtsanwalt oder Steuerberater, vertreten wird.[12]

Regelmäßig soll in diesen Fällen aber eine Umdeutung von Verfahrenserklärungen nicht in Betracht kommen, weil bei Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe davon ausgegangen wird, dass sie sich über die rechtliche Tragweite des von ihnen Erklärten im Klaren sind und das Erklärte auch tatsächlich gewollt haben.[13] Im Hinblick auf die verfassungsrechtlich gebotene Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes sollten diese Erwartungen m. E. aber nicht überstrapaziert werden.[14]

[5] BFH v. 11.9.1986, IV R 11/83, BStBl II 1987, 5; BFH v. 19.6.1997, IV R 51/96, BFH/NV 1998, 6; Bartone, in Gosch, AO/FGO, § 357 AO Rz. 14; Szymczak, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 357 Rz. 7/1; Koenig/Cöster, AO, 4. Aufl. 2021, § 357 Rz. 6; Siegers, in HHSp, AO/FGO, § 357 AO Rz. 11.
[7] Geimer, NWB 2009, 1664.
[9] Koenig/Cöster, AO, 4. Aufl. 2021, § 357 Rz. 7; BVerwG v. 12.12.2001, 8 C 17/01, BVerwGE 115, 302, zu § 68 VwGO.
[14] Ebenso für "sinnlose" Erklärungen: FG Münster v. 12.1.2023, 8 K 1080/21, EFG 2023, 382, Rev. Az. des BFH: VII R 7/23; Siegers, in HHSp, AO/FGO, § 357 AO Rz. 10.

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