Rz. 90

Der deutsche Gesetzgeber war offensichtlich der Auffassung, dass es sich bei den Verschonungsregelungen um keine europarechtliche Beihilfe handelt (Art. 107 ff. AEUV). Andernfalls hätte das Gesetz erst dann in Kraft treten dürfen, nachdem die Europäische Kommission die beihilferechtliche Genehmigung erteilt hat (Art. 108 Abs. 3 AEUV).

 

Rz. 91

Im Referentenentwurf des Bundesministeriums der Finanzen[1] wurde zur Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union noch Folgendes ausgeführt:

Zitat

Der Verzicht auf eine Bedürfnisprüfung bei Erwerb von begünstigtem Vermögen bis 20 Millionen Euro und die Regelung des Verschonungsabschlags können keine staatliche Beihilfe begründen, da nur die Erben und Beschenkten und nicht die Unternehmen als solche begünstigt werden. Die Änderungen folgen dem Leitprinzip der steuerlichen Progression und dem inneren Aufbau des Erbschaftsteuersystems und sind damit gerechtfertigt.

 

Rz. 92

In dem späteren Regierungsentwurf ist dieser Abschnitt dann nicht mehr enthalten. Eine Begründung dafür findet sich nicht. In den sonstigen Gesetzesmaterialien findet sich (soweit ersichtlich) gleichfalls keinerlei Hinweis auf die Vereinbarkeit der neuen Verschonungsregelungen mit europäischem Recht.

 

Rz. 93

Die kurzen Ausführungen in dem Referentenentwurf werden der komplexen Beihilfeproblematik kaum gerecht. Im Schrifttum wird die Frage kontrovers diskutiert.[2] Der Europäische Gerichtshof hat über diese Frage bislang noch nicht entschieden. Der BFH hat sich in einem Einzelfall, der allerdings nicht die Besteuerung von Unternehmensvermögen betraf, eher zurückhaltend geäußert.[3]

 

Rz. 94

Der Hinweis darauf, dass die neuen Verschonungsregeln die Erwerber (und nicht die Unternehmen) begünstigen ist zutreffend. Allerdings kann dieses Argument schon deshalb nicht überzeugen, weil der deutsche Gesetzgeber in seiner eigenen Gesetzesbegründung immer wieder die Bedeutung der Neuregelungen für "die Betriebe, die deutsche Unternehmenslandschaft, die Unternehmenskultur, die deutschen Unternehmensstrukturen, die mittelständischen und inhabergeführten Unternehmen und die deutsche Wirtschaft" hervorhebt.[4] Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum ErbStG gleichfalls mehrfach betont, dass die Regelungen dem Schutz der Unternehmen und Betriebe dienen. Die Begünstigungen sollen nach Auffassung des BVerfG verhindern, dass "Betriebe" (aufgrund der Steuerbelastung) "in Liquiditätsschwierigkeiten" kommen.[5]

 

Rz. 95

Vielfach wird auch darauf hingewiesen, dass die Erbschaftsteuergesetze in anderen EU-/EWR-Mitgliedstaaten für Betriebe gleichfalls gewisse Vergünstigungen vorsehen, ohne dass diese als Beihilfen qualifiziert werden. Dies trifft zu. Die ausländischen Regelungen sind aber bei weitem nicht so komplex und weitreichend wie in Deutschland. Europarechtlich ist weniger die Begünstigung als solche problematisch, als vielmehr deren konkrete Ausgestaltung mit ihren zahlreichen Ausnahmen, Rückausnahmen und Unterausnahmen. Die Regelungen sind zudem in mehrfacher Hinsicht nicht rechtsformneutral, ohne dass dafür immer sachliche Gründe ersichtlich sind. Insgesamt sind die Verschonungsregelungen von vielen Einzelfallregelungen geprägt. Dies deutet auf eine selektive Begünstigung hin.[6]

Es bleibt abzuwarten, ob die Europäische Kommission das zum 1.7.2016 in Kraft getretene Gesetz einer beihilferechtlichen Prüfung unterziehen wird.

 

Rz. 96–100

einstweilen frei

[1] Stand: 1.6.2015, Abschnitt VI., S. 18.
[2] U. a. Reimer, NJW 2016, Heft 30, NJW-aktuell 3; Seer, GmbHR 2016, 673, 677; de Weerth, DB 2016, 2692.
[3] BFH v. 17.1.2022, II B 49/21, LS 2 und Rz. 17 ff., ErbStB 2022, 127 mit Anm. Heinrichshofen; Verstoß des ErbStG gegen Art. 107 AEUV im konkreten Rechtsstreit "nicht klärungsfähig", aber wohl eher abzulehnen.
[4] S. BT-Drs. 18/5923, S. 1 f., S. 16 ff. und S. 21 ff.
[5] BVerfG v. 17.12.2014, 1 BvL 21/12, Leitsatz Nr. 4a und Rz. 127, 133, 136, 152, 172, BVerfGE 138, 136, BStBl II 2015, 50, DStR 2015, 31.
[6] S. a. § 13b Rz. 460.

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