Rz. 47

Die Verfassungsmäßigkeit des neuen ErbStG erscheint in mehrfacher Hinsicht zweifelhaft.[1] Dies gilt nicht nur für zahlreiche Einzelfragen, sondern auch für die gesetzliche Regelung insgesamt.

[1] S. nur Paul Kirchhof, DStR 2021, 2761, 2767; Seer, StuW 2021, 111; Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609; monographisch zum Ganzen Warias, Die Erbschaftsteuerreform 2016, 2021.

1.3.2.1 Klarheit und Verständlichkeit

 

Rz. 48

Das BVerfG hat in seiner Rspr. (in unterschiedlichstem Zusammenhang) immer wieder betont, dass Steuergesetze klar und verständlich sein müssen. Die Stpfl. sollen in der Lage sein, die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung zu erkennen und ihr Verhalten danach auszurichten. Das neue ErbStG ist alles andere als klar verständlich. Die Regelungen sind oft schon sprachlich kaum zu verstehen (s. z. B. § 13b Abs. 2 S. 2 oder § 13b Abs. 4 Nr. 5 S. 4 und 5 ErbStG).[1] Der Aufbau der Vorschriften ist wenig übersichtlich. Die Berechnung der Steuer lässt sich dem Gesetz allenfalls ansatzweise entnehmen. Im Fachschrifttum werden (von ausgewiesenen Experten) völlig unterschiedliche Rechenmodelle diskutiert (die naturgemäß auch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen). Es fehlt an einer eindeutigen und bestimmten Anordnung der Besteuerung. Insgesamt sind die neuen Regelungen in weiten Teilen unklar, unübersichtlich und unverständlich.[2] Dies entspricht nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Normenklarheit und Transparenz.[3]

Es ist rechtsstaatlich mehr als bedenklich, dass allein die Stellungnahme der FinVerw (in den ErbStR 2019 samt Hinweisen) mit fast 400 Seiten Umfang den eigentlichen Gesetzestext um rund das 10-fache überschreiten. Dies zeigt, dass das Gesetz aus sich heraus nicht mehr verständlich ist. In weiten Teilen trifft nicht mehr der Gesetzgeber die Entscheidung über Art und Höhe der Besteuerung, sondern die FinVerw (zudem mit großen, auch regionalen Unterschieden).[4]

[2] S. jüngst auch Maier/Schanz/Sixt, Was macht unverständliche Rechtsnormen konflikthaltig? Eine KI-gestützte Analyse anhand der Rechtsprechung des BFH, DStR 2022, 1566, 1574: "Unsere Ergebnisse zeigen, dass an der Spitze der unverständlichsten Rechtsnormen der deutschen Steuergesetze die (…) §§ 13a, 13b ErbStG stehen (…).".
[3] S. auch die deutliche Kritik bei Seer, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Kapitel 15 Rz. 15.118 m. w. N.; s. etwa: verwaltungstechnisches Monstrum, an der Lebenswirklichkeit vorbeigehende Regelungstechnik, Regelungswirrwarr, unbeherrschbare Komplexität, polytele Hyperlexie, juristischen Unbeherrschbarkeit der Regelung.
[4] S. dazu allgemein auch F. Kirchhof, JZ 2018, 1068, 1070.

1.3.2.2 Steuern und Strafrecht

 

Rz. 49

Steuerhinterziehung ist strafbar. Dies gilt auch für die Erbschaft- und Schenkungsteuer. Der Gesetzgeber muss die steuerlichen Pflichten daher von vornherein klar und bestimmt regeln. Die Regelung muss im Gesetz selbst erfolgen (und nicht nur in Verordnungen, Richtlinien oder Erlassen).

1.3.2.3 Gemeinwohl und Eigeninteressen

 

Rz. 50

Eine erfolgreiche Regelung der Unternehmensnachfolge ist auch im Interesse der Allgemeinheit. Die generelle Begünstigung des Erwerbs von (allen) Betrieben ist daher sachgerecht und legitim. Allerdings hat der Gesetzgeber zahlreiche Sonderregelungen für einzelne Branchen und Unternehmen geschaffen. Solche Regelungen finden sich z. B. für Brauereien, Mineralölunternehmen, Saisonbetriebe, Wohnungsunternehmen, Autoleasingfirmen, Kunsthändler, Privatbanken und -versicherungen. Dies ist zwar kein unzulässiges Einzelfallgesetz. Gleichwohl ist eine derartige Fülle an Einzelfallregelungen bedenklich. Verfassungsrechtlich könnte dies die Gleichmäßigkeit der Besteuerung infrage stellen. Europarechtlich führt die (selektive) Begünstigung einzelner Unternehmen möglicherweise zum Vorliegen einer unzulässigen Beihilfe.

1.3.2.4 Transparenz und Offenheit

 

Rz. 51

Das Grundgesetz enthält klare Regeln für die Gesetzgebung. Die Mitwirkung von Verbänden ist dort nicht vorgesehen, in einer parlamentarischen Demokratie aber gleichwohl üblich und sinnvoll. Die Neuregelung des ErbStG wurde offensichtlich von einer besonders intensiven Lobbyarbeit begleitet. Eine derartige Einflussnahme auf Gesetze ist mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Transparenzgebot kaum zu vereinbaren.

1.3.2.5 Erhebung und Vollzug

 

Rz. 52

Die Erbschaft- und Schenkungsteuer muss gleichmäßig erhoben und vollzogen werden. Die Angaben der Stpfl. müssen jeweils auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit überprüft werden. Zumindest bei größeren (international tätigen) Unternehmen dürfte eine tatsächliche Überprüfung der zahlreichen Angaben, Wertermittlungen und Berechnungen kaum möglich sein. Erhebungs- und Vollzugsdefizite sind unvermeidlich. In der Praxis wird selbst von Vertretern der FinVerw immer wieder von einer "pragmatischen" (aber nicht gesetzeskonformen) Vorgehensweise berichtet.

1.3.2.6 Effektivität und Verhältnismäßigkeit

 

Rz. 53

Beim Vollzug der Steuergesetze sind auch die Grundsätze der "Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit" zu berücksichtigen (§ 88 Abs. 3 S. 2 AO). Die neuen Verschonungsregelungen führen bei der FinVerw zu einem enormen (finanziellen und personellen) Aufwand, ...

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