Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung einer Prüfungsanordnung bei nicht möglichem Ausschluss eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Anwendung des § 68 FGO bei Nachholung der Ausführungen zur Ermessensausübung. Begründung einer zweiten Anschlussprüfung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Prüfungsanordnung ist aufzuheben, wenn nicht auszuschließen ist, dass sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuwiderläuft und die Möglichkeit besteht, dass das FA gegen § 10 Abs. 1 BpO 2000 und damit gegen eine aufgrund der Selbstbindung zu beachtende Ermessensrichtlinie verstoßen hat. Nach dieser Vorschrift dürfen die Ermittlungen (§ 194 AO) im Falle eines Verdachts einer Steuerstraftat oder- ordnungswidrigkeit hinsichtlich des Sachverhalts, auf den sich der Verdacht bezieht, erst fortgesetzt werden, wenn dem Steuerpflichtigen die Einleitung des Strafverfahrens mitgeteilt worden ist.

2. Die Informationsverpflichtung des Steuerpflichtigen über die Einleitung des Strafverfahrens gem. § 10 BpO 2000 muss auch gelten, wenn schon vor Beginn der Prüfung hinsichtlich des prüfungsrelevanten Sachverhalts ein Anfangsverdacht wegen einer Steuerstraftat und/oder Steuerordnungswidrigkeit gem. § 152 StPO besteht.

3. Obgleich die Ermessenserwägungen für eine Prüfungsanordnung nach § 193 Abs. 1 AO gem. § 102 S. 2 FGO ergänzt, nicht aber nachgeholt werden können, greift § 68 S. 1 FGO auch dann, wenn der ursprüngliche Bescheid keine hinreichenden Ausführungen zur Ermessensausübung enthielt und diese in dem „ersetzenden” Verwaltungsakt nachgeholt werden.

4. Bei der zweiten Anschlussprüfung in Folge kann sich das FA nicht auf die Angabe der Norm des § 193 Abs. 1 AO beschränken.

 

Normenkette

AO § 193 Abs. 1, 2 Nr. 2, §§ 199, 194, 121 Abs. 1, §§ 5, 385 Abs. 1, § 397 Abs. 3, § 393 Abs. 1; BpO 2000 §§ 10, 3 Abs. 2, § 4 Abs. 3; FGO §§ 102, 96, 68; StPO § 152 Abs. 2

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 15.06.2016; Aktenzeichen III R 8/15)

 

Tenor

Die Prüfungsanordnung vom 13. März 2014 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Zuziehung eines Bevollmächtigten zum Vorverfahren war notwendig.

 

Tatbestand

Strittig ist die Rechtmäßigkeit einer im Klageverfahren erlassenen Prüfungsanordnung des Beklagten vom 13. März 2014 (Bl. 56 f Streitakte).

Der Kläger betreibt einen Einzelhandel mit Waren verschiedener Art (Niedrigpreisartikel, Haushaltswaren, Kosmetikartikel und dgl. mehr).

Bis zum Veranlagungszeitraum – VZ – 2006 ermittelte der Kläger seinen Gewinn gemäß § 4 Abs. 3 EinkommensteuergesetzEStG – durch Einnahmenüberschussrechnung. Ab dem VZ 2007 ging der Kläger zur Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich über (§§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 EStG).

Gemäß § 3 Betriebsprüfungsprüfungsordnung – BpO – war der Betrieb des Klägers zum 1. Januar 2004 als Kleinbetrieb, zum 1. Januar 2007 als Mittelbetrieb und zum 1. Januar 2010 als Großbetrieb eingestuft. Mit Wirkung ab dem 1. Januar 2013 ist der Betrieb wieder als Mittelbetrieb eingestuft.

Für die VZ 2002 bis 2004 sowie für 2005 bis 2007 führte der Beklagte beim Kläger Außenprüfungen durch, die – zwischen den Beteiligten unstrittig – zu keinen nennenswerten Beanstandungen geführt hatten.

Am 22. Januar 2013 ordnete der Beklagte die Durchführung einer zweiten Anschlussprüfung an, die sich auf die Feststellung der Einkünfte sowie die Gewerbesteuer der VZ 2008 bis 2011 erstrecken sollte. In einer Anlage zur Prüfungsanordnung – PA – forderte der Beklagte den Kläger auf, die elektronischen Daten seines Warenwirtschaftssystems, des Kassensystems und seiner Erlöse zur Verfügung zu stellen.

Der durch die hiesigen Prozessbevollmächtigten vertretene Kläger legte am 19. Februar 2013 Einspruch ein und beantragte, die PA ersatzlos aufzuheben. Zur Begründung trug er vor, die Durchführung einer zweiten Anschlussprüfung sei unverhältnismäßig. Eine permanente Prüfung sei nach § 4 BpO nur für Großbetriebe vorgesehen. Ein Großbetrieb liege aber nicht vor. Auch sonst seien keine Gründe ersichtlich, die eine zweite Anschlussprüfung rechtfertigen könnten. Bei der Übertragung der von der Rechtsprechung zur Prüfungserweiterung aufgestellten Grundsätze könne ein beachtlicher Grund für die Durchführung einer zweiten Anschlussprüfung lediglich dann angenommen werden, wenn die Prüfung zu Mehrsteuern von mindestens 3.000 EUR führe. Hiervon könne im Streitfall nicht ausgegangen werden, zumal die vorangegangenen Außenprüfungen ohne nennenswerte Beanstandungen geblieben seien. Angesichts der gesamten Umstände deute vieles darauf hin, dass die PA gegen den Grundsatz des Willkür- und Schikaneverbots verstoße und unverhältnismäßig sei. Gerade in kleineren und mittleren Betrieben führe die Durchführung einer Außenprüfung zu einer nicht zu unterschätzenden ze...

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