Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: strenge Anforderungen an die anwaltliche Aktenführung und Fristenüberwachung

 

Leitsatz (redaktionell)

Ist ein Gericht der Auffassung, daß ein Prozeßbevollmächtigter bei schwacher Ausprägung eines Eingangsstempels oder anderen Besonderheiten, die zu Zweifeln Anlaß geben, sich selbst über das richtige Eingangsdatum vergewissern und dazu gegebenenfalls auch Nachforschungen anstellen muß, werden zwar strenge, aber keine überspannten und damit verfassungswidrigen Sorgfaltsmaßstäbe angelegt.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO §§ 233, 519 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

BAG (Entscheidung vom 13.09.1995; Aktenzeichen 2 AZN 512/95)

LAG Hamm (Entscheidung vom 10.03.1995; Aktenzeichen 10 Sa 1154/94)

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

I.

1. Der Beschwerdeführer legte fristgerecht Berufung gegen die Abweisung einer Kündigungsschutzklage ein. Der Schriftsatz ging am 1. Juli 1994 beim Landesarbeitsgericht ein. Am 13. Juli 1994 erreichte den Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers das mit dem Eingangsvermerk des Landesarbeitsgerichts versehene Deckblatt des arbeitsgerichtlichen Urteils. Die zuständige Sekretärin sah als Eingangsdatum den 10. Juli 1994 an und notierte entsprechende Fristen. Anläßlich einer Besprechung mit dem Beschwerdeführer kamen seinem Prozeßbevollmächtigten Bedenken, ob die Berufung tatsächlich erst am 10. Juli 1994 eingegangen war. Nach telefonischer Aufklärung des Sachverhalts stellte er unverzüglich Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und begründete die Berufung.

2. Das Landesarbeitsgericht verwarf die Berufung unter Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig. Der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers habe die Berufungsbegründungsfrist schuldhaft versäumt. Bei rechtzeitiger Kontrolle der notierten Fristen wären die anläßlich der Besprechung im August 1994 entstandenen Zweifel an der Richtigkeit des Eingangsdatums 10. Juli 1994 bereits früher aufgetreten. Der Prozeßbevollmächtigte hätte sich dann rechtzeitig um Aufklärung bemühen und die Berufungsbegründungsfrist einhalten können. Ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten sei auch nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil die unrichtige Fristennotierung durch Mitarbeiter des Landesarbeitsgerichts mit veranlaßt worden sei. Das Landesarbeitsgericht führte sodann im einzelnen aus, wieso nur bei oberflächlicher Betrachtung der 10. Juli 1994 als Eingangsdatum habe angesehen werden können.

3. Der Beschwerdeführer sieht sich durch die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt. Das Landesarbeitsgericht werfe ihm im Kern vor, daß weder sein Prozeßbevollmächtigter noch dessen Sekretärin Zweifel daran gehabt hätten, daß der Berufungsschriftsatz am 10. Juli 1994 bei Gericht eingegangen sei. Damit überspanne es die Sorgfaltsanforderungen in unzulässiger Weise. Verlasse nämlich ein zweifelhafter Akt, wie hier ein zweideutig lesbares Datum, den staatlichen Organisationsbereich und gehe der Bürger von einer der möglichen Auslegungsvarianten aus, könne dies nicht zum Nachteil des Bürgers gereichen. Von einer mangelnden Sorgfalt könne nur gesprochen werden, wenn sich dem Anwalt objektiv die Unrichtigkeit des Eingangsdatums hätte aufdrängen müssen. Daraus, daß später Zweifel aufträten, die sich dann als begründet erwiesen, könne nicht rückwirkend auf mangelnde Sorgfalt geschlossen werden.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a und b BVerfGG).

1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Diese ist nur dann gegeben, wenn die Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten läßt und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt ist oder die durch veränderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist (BVerfGE 90, 22 ≪24≫). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Umfang und Tragweite des Anspruchs auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) im Zusammenhang mit der Zurückweisung eines Wiedereinsetzungsgesuchs sind hinreichend geklärt (vgl. BVerfGE 79, 372 ≪375 ff.≫ m.w.N.).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Durch die Versagung der Entscheidung zur Sache entsteht dem Beschwerdeführer demnach kein besonders schwerer Nachteil (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫).

Der Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) ist nicht verletzt. Die Rechtsanwendung des Landesarbeitsgerichts überspannt die an einen Rechtsanwalt zu stellenden Sorgfaltsanforderungen noch nicht und erschwert daher den Zugang zur Berufungsinstanz nicht in unzumutbarer Weise (vgl. BVerfGE 79, 372 ≪377 f.≫). Dabei braucht aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht abschließend geprüft zu werden, ob die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts einfachrechtlich zutreffend sind. Nicht jede unzutreffende Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht ist nämlich generell auf die Prüfung beschränkt, ob spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist (BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫), und darf nicht seine einfachrechtliche Würdigung des Sachverhalts an die Stelle der Würdigung des Fachgerichts setzen. Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist daher erst überschritten, wenn das Fachgericht bei Zurückweisung eines Wiedereinsetzungsgesuchs offensichtlich unhaltbare Sorgfaltsanforderungen an einen Rechtsanwalt gestellt hat.

Diese Grenze hat das Landesarbeitsgericht noch nicht überschritten. Die dem angegriffenen Urteil zugrundeliegende Auffassung, daß der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers bei schwacher Ausprägung eines Eingangsstempels oder anderen Besonderheiten, die zu Zweifeln Anlaß gäben, sich selbst über das richtige Eingangsdatum vergewissern und dazu gegebenenfalls auch Nachforschungen anstellen müsse, ist zwar streng, aber noch nicht verfassungswidrig (vgl. den Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1995, S. 711 ≪712≫, in dem diese Frage offengelassen wird). Die tatsächliche Würdigung, daß der Eingangsvermerk des Landesarbeitsgerichts Anlaß zu Zweifeln geben konnte, ist ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1518594

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