Entscheidungsstichwort (Thema)

Einbeziehung der Verfahrensbeteiligten bei Selbstablehnung eines Richters

 

Leitsatz (amtlich)

Zeigt ein Richter Umstände an, die seine Ablehnung rechtfertigen können, so darf das nicht als innerdienstlicher Vorgang behandelt werden. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, daß die Anzeige den Verfahrensbeteiligten mitgeteilt wird und diese Gelegenheit zur Stellungnahme haben.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 1; StPO § 30; ZPO § 48

 

Verfahrensgang

Landesberufsgericht für Architekten Stuttgart (Urteil vom 09.04.1990; Aktenzeichen LBG 1/90)

 

Tenor

Das Urteil des Landesberufsgerichts für Architekten in Stuttgart vom 9. April 1990 – LBG 1/90 – und der Beschluß dieses Gerichts vom 9. April 1990 – LBG 1/90 – über die Selbstablehnung eines Richters verletzten Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Das Verfahren wird an das Landesberufsgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob im Falle der Selbstablehnung eines Richters (hier: eines ehrenamtlichen Richters am Landesberufsgericht für Architekten) den Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör gewährt werden muß.

I.

Das berufsgerichtliche Verfahren für Architekten ist landesrechtlich geregelt. In Baden-Württemberg richtet es sich nach dem Architektengesetz in der Fassung vom 7. Juli 1975 (GBl. BW S. 581) – ArchG BW -. Das Verfahren findet im ersten Rechtszug vor dem Berufsgericht und im zweiten Rechtszug vor dem Landesberufsgericht für Architekten statt (§ 20 ArchG BW). Dieses entscheidet in der Besetzung mit einem auf Lebenszeit ernannten Richter als Vorsitzendem, einem Beisitzer, der die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz besitzt, und drei Mitgliedern der Architektenkammer als weiteren Beisitzern (§ 19 Abs. 2 ArchG BW). Für die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen gelten die Vorschriften der Strafprozeßordnung entsprechend (§ 19 Abs. 5 ArchG BW).

Für den Strafprozeß ist die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen in den §§ 22 ff. StPO geregelt. § 30 StPO betrifft die Anzeige von möglichen Befangenheitsgründen durch einen Richter. Die Vorschrift lautet:

Das für die Erledigung eines Ablehnungsgesuchs zuständige Gericht hat auch dann zu entscheiden, wenn ein solches Gesuch nicht angebracht ist, ein Richter aber von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte, oder wenn aus anderer Veranlassung Zweifel darüber entstehen, ob ein Richter kraft Gesetzes ausgeschlossen ist.

Für den Zivilprozeß und die meisten anderen Verfahrensarten gilt § 48 ZPO (§ 54 VwGO, § 51 FGO, § 46 Abs. 2 ArbGG und § 60 SGG). Die Regelung entspricht § 30 StPO, bestimmt jedoch zusätzlich in Absatz 2: „Die Entscheidung ergeht ohne Gehör der Parteien.”

II.

1. Die Beschwerdeführer sind baugewerblich tätige Architekten. Bis Ende 1988 betrieben sie gemeinsam ein Architekturbüro. Gleichzeitig waren sie Gesellschafter zweier Unternehmen, die sich mit der Planung und Projektsteuerung im Bauwesen befaßten. Im Rahmen der Sanierung eines Wohn- und Geschäftshauses waren sie sowohl als planende Architekten als auch mit ihren gewerblichen Unternehmen tätig. An der Baustelle war ein Schild angebracht, das die Beschwerdeführer nannte und auf beide Funktionen hinwies. Die Architektenkammer beanstandete das als berufswidrige Werbung.

Das Berufsgericht für Architekten verhängte gegen die Beschwerdeführer eine Geldbuße in Höhe von 1.500 DM. In der zweiten Instanz teilte der zum Beisitzer berufene Architekt S. dem Landesberufsgericht mit, daß ihm die Beschwerdeführer persönlich und geschäftlich bekannt seien; ohne nähere Begründung folgerte er daraus, daß ihm eine Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht möglich sei. Das Landesberufsgericht sah darin eine Selbstablehnung nach § 30 StPO und gab dieser statt, ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor gehört zu haben und ohne den Beschluß bekanntzugeben. Unmittelbar anschließend führte es die mündliche Verhandlung durch, und zwar in Abwesenheit der Beschwerdeführer und ihrer Verfahrensbevollmächtigten, die verhindert waren und vergeblich eine Terminsverlegung beantragt hatten.Am Schluß der Sitzung verkündete es sein Urteil, mit dem es die Berufungen der Beschwerdeführer verwarf.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführer gegen die beiden Entscheidungen des Landesberufsgerichts. Sie rügen eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG.

Das Urteil sei nicht durch die gesetzlichen Richter erlassen worden. Ein Befangenheitsgrund, der die Selbstablehnung des ehrenamtlichen Richters S. rechtfertigen könnte, habe nicht vorgelegen. Es bestehe weder eine persönliche noch eine geschäftliche Beziehung zwischen dem Richter und den Beschwerdeführern. Der gemeinsame Wohn- und Arbeitsort allein reiche nicht aus, um eine Ablehnung zu rechtfertigen. Ihr Anspruch auf rechtliches Gehör sei dadurch verletzt worden, daß das Landesberufsgericht die Selbstablehnung gebilligt habe, ohne ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die zu entscheidende Frage betreffe keine innere Angelegenheit des Gerichts. Deshalb hätten sie vor der Entscheidung gehört werden müssen, wie das Bundesverfassungsgericht für den Fall der Richterablehnung durch eine Partei bereits entschieden habe. Wenn ihnen Gelegenheit gegeben worden wäre, ihre Einwände vorzutragen, wäre die Selbstablehnung des Richters nicht gebilligt worden.

III.

1. Der Bundesminister der Justiz hat namens der Bundesregierung Stellung genommen. Er hält die Verfassungsbeschwerde für begründet.

Die angegriffene Entscheidung verletze das durch Art. 103 Abs. 1 GG geschützte Recht der Verfahrensbeteiligten auf Information und Äußerung. Über die Berechtigung der Selbstanzeige eines Richters werde eine eigenständige, konstitutive und sämtliche Umstände abwägende Entscheidung getroffen. Anders als bei der rein deklaratorischen Entscheidung im Falle des gesetzlichen Ausschlusses eines Richters (§ 41 ZPO, § 22 StPO) hänge die Entscheidung der Frage, ob in der Person eines Richters Befangenheitsgründe vorlägen, von vielfältigen Wertungen und damit von subjektiven Elementen ab. Da die Selbstablehnung regelmäßig mit dem persönlichen Bezug zu einem der Prozeßbeteiligten oder mit dem sachlichen Bezug zu der Streitsache begründet werde, müßten die Beteiligten Gelegenheit erhalten, ihre Sicht der angezeigten Umstände darzulegen. Betroffen sei ihr Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Es handele sich nicht um eine Angelegenheit, die einer allgemeinen Maßnahme der Gerichtsverwaltung vergleichbar sei. Das Aufstellen des jährlichen Geschäftsverteilungsplans durch das Präsidium des Gerichts betreffe die abstrakte Bestimmung des gesetzlichen Richters, aus der der Anspruch der Beteiligten auf Mitwirkung eines konkreten Richters erst abzuleiten sei. Gehe es hingegen um die Selbstablehnung eines Richters im Einzelfall, so seien die Rechte der Beteiligten betroffen. Insgesamt unterscheide sich die Selbstanzeige von dem Befangenheitsantrag eines Verfahrensbeteiligten nur durch die Art und Weise, wie das Zwischenverfahren in Gang gesetzt werde.

2. Der Justizminister des Landes Baden-Württemberg hält die Rüge einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG für unzulässig und die Verfassungsbeschwerde im übrigen für unbegründet.

a) Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs könne nicht gegen das Urteil des Landesberufsgerichts, sondern nur gegen die vorangegangene Zwischenentscheidung gerichtet werden. Nachdem jedoch das Landesberufsgericht willkürfrei und damit ohne Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in der Besetzung mit dem Vertreter des ehrenamtlichen Richters S. entschieden habe, sei die prozessuale Beschwer der Zwischenentscheidung und damit insoweit auch das Rechtsschutzinteresse für eine Verfassungsbeschwerde entfallen. In Betracht komme allenfalls noch ein fortbestehendes Interesse auf Feststellung der Grundrechtswidrigkeit.

Gehe man von einem solchen Rechtsschutzinteresse aus, so sei allerdings fraglich, ob der Beschluß des Landesberufsgerichts einer Überprüfung am Maßstab des Art. 103 Abs. 1 GG standhalte. Die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs ergebe sich zwar aus dem Gesetz. Anhörungspflichten könnten jedoch unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG hergeleitet werden, wenn die einschlägige Verfahrensordnung verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen nicht genüge. Dafür spreche hier, daß der Anspruch auf den gesetzlichen Richter in einem konkreten Verfahren betroffen sei.

b) Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG rügten, sei die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Eine verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters liege nur dann vor, wenn die angegriffene Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheine, offensichtlich unhaltbar sei oder die Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkenne. Ein so schwerwiegender Verstoß sei dem Landesberufsgericht nicht vorzuwerfen.

3. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat Stellungnahmen mehrerer Zivil- und Strafsenate vorgelegt, in denen zustimmend auf die bisherige Rechtsprechung zu § 30 StPO und § 48 Abs. 2 ZPO verwiesen wird. Danach ergeht die gerichtliche Entscheidung auf die Anzeige eines Richters ohne Anhörung der Verfahrensbeteiligten; sie wird ihnen auch nicht bekanntgegeben (vgl. BGH, GA 1962, S. 338; NJW 1970, S. 1644). Zur Begründung wird ausgeführt, daß es sich um eine innere Angelegenheit des Gerichts handele, die in derselben Weise wie die Verhinderung eines Richters wegen Urlaubs, Krankheit oder Überlastung und wie das Vorliegen von Ausschlußgründen im Sinne der §§ 22, 23 StPO festzustellen sei.

4. Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts hat divergierende Äußerungen von vier Senaten vorgelegt.

Der 7. Senat hat mitgeteilt, daß er die von ihm früher vertretene Auffassung aufgebe, wonach bei der Selbstablehnung eines Richters kein rechtliches Gehör gewährt werden müsse. Er teile nach erneuter Überprüfung die Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 48 Abs. 2 ZPO. Da die Entscheidung des Gerichts über das Selbstablehnungsgesuch eines Richters das Recht der Parteien auf den gesetzlichen Richter berühre und da der zugrundeliegende Sachverhalt notwendigerweise in Beziehung zu einem der Beteiligten oder dessen Begehren stehe, sei vorheriges Gehör der Verfahrensbeteiligten unerläßlich.

Der 4. Senat hält es für vertretbar, die Entscheidung über das Selbstablehnungsgesuch eines Richters im allgemeinen als innere Angelegenheit des Gerichts anzusehen; fraglich sei jedoch, ob das auch im vorliegenden Fall gelte. Die von den Beschwerdeführern zum Selbstablehnungsgesuch vorgetragenen Umstände zeigten, daß Ausnahmen geboten sein könnten.

Der 1. und 2. Wehrdienstsenat lehnen eine Anhörung der Verfahrensbeteiligten im Falle der Selbstablehnung eines Richters ab. Es handele sich um eine interne Gerichtsangelegenheit, zu der die Verfahrensbeteiligten ebensowenig zu hören seien wie etwa zur Verhinderung eines Richters infolge Krankheit oder Urlaubs.

5. Der Präsident des Bundesfinanzhofs hat mitgeteilt, daß Entscheidungen zu der Frage, ob § 48 Abs. 2 ZPO mit Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar ist, nicht vorlägen; die Nichtanhörung der Parteien sei jedoch vom Bundesfinanzhof bisher nicht beanstandet worden. Allerdings habe der VI. Senat von sich aus die Zustellung in einem Fall veranlaßt, in dem ein Finanzgericht durch Selbstablehnung sämtlicher Richter beschlußunfähig geworden sei. Er habe dabei offengelassen, ob die Verfassung dies fordere; jedenfalls verbiete § 48 Abs. 2 ZPO ein solches Verfahren nicht.

 

Entscheidungsgründe

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Einwände, die der Justizminister des Landes Baden-Württemberg insoweit erhoben hat, sind nicht begründet.

Richtig ist allerdings, daß der Beschluß des Landesberufsgerichts über die Selbstablehnung des ehrenamtlichen Richters eine selbständige Zwischenentscheidung darstellt, die im Wege der Verfassungsbeschwerde anzugreifen ist (vgl. BVerfGE 21, 139 ≪143≫; 24, 56 ≪61≫). Diese rechtliche Möglichkeit konnten die Beschwerdeführer jedoch vor Erlaß des Berufungsurteils nicht nutzen, weil das Gericht seine Zwischenentscheidung als innerdienstliche Angelegenheit betrachtete und ohne weiteres in die mündliche Verhandlung eintrat. Dabei wirkte der (offenbar vorsorglich geladene) Vertreter des ausgeschiedenen Richters mit. Erst nach Verkündung des Berufungsurteils war es den Beschwerdeführern möglich, durch Akteneinsicht festzustellen, daß ein Richter aufgrund einer Selbstanzeige nach § 30 StPO ausgewechselt worden war. Bei dieser Sachlage ist es nicht zu beanstanden, daß sie die Zwischenentscheidung über die Selbstanzeige erst nach Erlaß des Berufungsurteils zusammen mit diesem angegriffen haben.

Das Rechtsschutzinteresse für die Rüge einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG ist auch nicht mit Erlaß des Berufungsurteils weggefallen. Die gerügte Verletzung rechtlichen Gehörs kann Folgen für die abschließende Entscheidung gehabt haben. Diese ist deshalb nicht nur mit der Rüge einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angreifbar. War nämlich die Zwischenentscheidung fehlerhaft, hat an dem nachfolgenden Urteil ein dazu nichtberufener Richter mitgewirkt. Wegen der Bedeutung der Besetzung des erkennenden Gerichts für die Urteilsfindung ist ein abweichendes Ergebnis nicht auszuschließen, wenn ein anderer Richter mitgewirkt hätte. Deshalb muß es den Beschwerdeführern im vorliegenden Fall möglich sein, neben der Zwischenentscheidung auch das nachfolgende Berufungsurteil mit der Rüge einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG anzugreifen.

C.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Urteil und Beschluß des Landesberufsgerichts verletzen Art. 103 Abs. 1 GG.

I.

Die grundgesetzliche Gewährleistung rechtlichen Gehörs konkretisiert das Rechtsstaatsprinzip mit weitreichenden Folgen für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern vor Entscheidungen, die seine Rechte betreffen, zu Wort kommen, um Einfluß auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können. Die Parteien müssen sich zu dem Sachverhalt, der einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt wird, vor Erlaß der Entscheidung äußern dürfen (vgl. grundlegend BVerfGE 1, 418 ≪429≫; st. Rspr.; zuletzt BVerfGE 86, 133 ≪144 f.≫ m.w.N.). Dieses Recht auf Äußerung ist eng verknüpft mit einem Recht auf Information. Eine Art. 103 Abs. 1 GG genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, daß die Verfahrensbeteiligten zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Sie müssen sich bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (vgl. BVerfGE 84, 188 ≪190≫; 86, 133 ≪144≫). Auch dienstliche Äußerungen dürfen nicht zurückgehalten werden (vgl. BVerfGE 10, 274 ≪282≫; 24, 56 ≪62≫).

Allerdings bedarf der Grundsatz des rechtlichen Gehörs – ebenso wie die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) – einer Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Dieser darf aber den Beteiligten nicht jede Gelegenheit nehmen, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und Rechtsfragen zu äußern. Die Auslegung der gesetzlichen Vorschriften in den jeweils maßgebenden Prozeßordnungen ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte; sie wird vom Bundesverfassungsgericht nur eingeschränkt überprüft. Nicht jeder Verfahrensfehler ist zugleich auch als Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG zu werten (vgl. BVerfGE 75, 302≪313 f.≫). Es gibt jedoch ein Mindestmaß an Verfahrensbeteiligung, das keinesfalls verkürzt werden darf. Ein Verfassungsverstoß liegt zumindest dann vor, wenn die Auslegung durch die Gerichte zu einem Ergebnis führt, das nicht einmal der Gesetzgeber anordnen könnte (vgl. BVerfGE 74, 228 ≪233 f.≫). Diese Grenze ist hier überschritten.

II.

Zeigt ein Richter Umstände an, die seine Ablehnung rechtfertigen können, so darf das nicht als innerdienstlicher Vorgang behandelt werden. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, daß die Selbstanzeige den Verfahrensbeteiligten mitgeteilt wird; diese müssen Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

1. Die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens haben nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Anspruch auf den gesetzlichen Richter, der sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozeßordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergibt. Darüber hinaus wird ihnen durch die Verfassung gewährleistet, daß sie nicht vor einem Richter stehen, dem es an der gebotenen Neutralität fehlt (BVerfGE 21, 139 ≪145 f.≫). Die Frage, ob Befangenheitsgründe gegen die Mitwirkung eines Richters sprechen, berührt deshalb die prozessuale Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten. Schon aus diesem Grunde kann nicht von einem rein innerdienstlichen Vorgang gesprochen werden.

Die Gründe und Gesichtspunkte, von denen die Beurteilung der Befangenheit im Einzelfall abhängt, betreffen regelmäßig persönliche Verhältnisse einer Partei oder besondere Umstände der Streitsache. Solche Sachverhalte können zudem fast immer unterschiedlich gesehen, dargestellt und gewertet werden. Stützt sich das Gericht allein auf eine Darstellung des betroffenen Richters, die die Verfahrensbeteiligten nicht kennen, so verletzt es Art. 103 Abs. 1 GG, weil es seiner Entscheidung Feststellungen zugrunde legt, zu denen rechtliches Gehör nicht gewährt wurde (vgl. BVerfGE 24, 56 ≪61 f.≫).

2. Im Ergebnis entspricht das heute einhelliger Auffassung, soweit es um den Befangenheitsantrag einer Prozeßpartei geht. Hingegen wird für den Fall der Selbstablehnung eines Richters von der überwiegenden Rechtsprechung und Teilen der Fachliteratur die Ansicht vertreten, die Anhörung der Verfahrensbeteiligten sei sachwidrig und entbehrlich (vgl. BGH, GA 1962, S. 338; NJW 1970, S. 1644; Pfeiffer, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 2. Aufl., § 30 Rdnr. 4; Kleinknecht/Meyer, StPO, 40. Aufl., § 30 Rdnr. 5; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 48 Anm. 2; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl., § 25 II 3 b, S. 139). Diese Ansicht ist jedoch auf Widerspruch gestoßen (vgl. u.a. Arzt, JR 1974, S. 75; Pentz, JVBl. 1963, S. 186, und JR 1967, S. 87; Schneider, JR 1977, S. 270; Metzner, ZZP 97 ≪1984≫, S. 196; Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 30 Rdnr. 5). Sie ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Von wem die Frage der Befangenheit eines Richters in das Verfahren eingeführt wird, hat weder für die betroffene Rechtsposition der Verfahrensbeteiligten noch für die Voraussetzungen vollständiger Sachaufklärung Bedeutung.

Der Bundesgerichtshof verweist demgegenüber auf die Pflicht des Staates zur Justizgewährung, die es gebiete, „ohne langwierige Förmlichkeiten” für jeden Streitfall einen Richter bereitzustellen (BGH, NJW 1970, S. 1644). Dabei wird übersehen, daß die Justizgewährungspflicht nur durch die Bereitstellung eines unparteiischen Richters erfüllt wird und andererseits der gesetzliche Richter auch bei Ersetzung eines tatsächlich nicht befangenen Richters vorenthalten wird. Um dem Rechnung zu tragen, ist bei der Selbstanzeige eines Richters rechtliches Gehör unverzichtbar. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu anderen Fällen der Verhinderung eines Richters.

Schließlich sieht der Bundesgerichtshof (a.a.O.) auch persönliche Interessen des anzeigenden Richters bedroht, wenn es um”heftige Auseinandersetzungen” oder „unerquickliche Fragen” gehe. Solche Ausnahmefälle können in der Tat Formulierungsgeschick und Taktgefühl erfordern; sie rechtfertigen jedoch nicht, daß die prozessuale Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten geschmälert wird.

III.

Da das Landesberufsgericht Art. 103 Abs. 1 GG verletzt hat, ist nicht nur seine Zwischenentscheidung über die Selbstanzeige des ehrenamtlichen Richters aufzuheben, sondern auch das Berufungsurteil vom selben Tage. An diesem haben infolge der verfahrensfehlerhaften Annahme eines Befangenheitsgrundes nicht die Richter mitgewirkt, die nach dem Besetzungsplan zunächst zuständig waren. Hätte das Gericht seiner Anhörungspflicht genügt, hätte es möglicherweise die Selbstablehnung des ehrenamtlichen Richters zurückgewiesen. Da nicht auszuschließen ist, daß bei einer anderen Besetzung des Gerichts auch in der Sache abweichend entschieden worden wäre (vgl. BVerfGE 4, 412 ≪418≫), beruht das Urteil ebenso wie die vorangehende Zwischenentscheidung auf der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG.

Ob darüber hinaus auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt ist, kann dahingestellt bleiben. Der Fall gibt auch keinen Anlaß, darüber zu entscheiden, ob § 48 Abs. 2 ZPO verfassungswidrig ist oder verfassungskonform ausgelegt werden kann.

 

Fundstellen

BVerfGE, 28

NJW 1993, 2229

EuGRZ 1993, 597

NVwZ 1993, 1181

JuS 1993, 1059

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Kanzlei-Edition. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge