Leitsatz (amtlich)
Ein Urteil, das erst ein Jahr nach seiner Verkündung zugestellt wird --bei beschlossener Zustellung an Verkündungs Statt ein Jahr nach dem Zeitpunkt, bis zu dem es der Geschäftsstelle zu übergeben war-- ist als "nicht mit Gründen versehen" zu werten (absoluter Revisionsgrund).
Orientierungssatz
Wird ein Urteil des FG nicht verkündet, sondern zugestellt, muß es binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle übergeben werden; entsprechend § 105 Abs. 4 Satz 2 FGO genügt die Niederlegung der von den Berufsrichtern unterschriebenen Urteilsformel (vgl. BFH-Urteil vom 22.2.1980 VI R 132/79).
Normenkette
FGO § 119 Nr. 6, § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 104 Abs. 2, 1 S. 1, § 105 Abs. 4 S. 2
Tatbestand
I. Durch das angefochtene Urteil des Finanzgerichts (FG) wurde der Klage gegen 17 Steuerhaftungsbescheide (einschließlich eines Steuer- und Haftungsbescheides), die der Beklagte und Revisionsbeklagte (Hauptzollamt --HZA--) gegen den Rechtsvorgänger (Vater) des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) erlassen hatte, unter Abänderung der Bescheide teilweise entsprochen, weil das FG, wie es näher ausführte, die Steuerforderungen (Zoll, Monopolausgleich, Umsatzausgleichsteuer) nur dem Grunde nach, nicht aber in voller Höhe für berechtigt hielt. Das Urteil ist aufgrund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 27.November 1985 ergangen, zu der die Parteien mündlich in der vorangegangenen Verhandlung vom 30.Oktober 1985 geladen worden waren (Sitzungsprotokoll Bl.249/R, 256 FG-Akte). Am Schluß der letzten Verhandlung, an der der Kläger mit seinem Prozeßbevollmächtigten sowie Vertreter des HZA teilnahmen, wurde der Beschluß verkündet, daß eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde (Sitzungsprotokoll Bl.259 FG-Akte). Das Urteil ist --mit Gründen-- ausweislich der Akten am 23.Dezember 1986 bei der Geschäftsstelle des zuständigen Senats des FG eingegangen (Bl.204 FG-Akte). Es ist im Januar 1987 geschrieben, am 20.Januar 1987 ausgefertigt und dem Kläger am 28.Januar 1987 zugestellt worden.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, die Vorentscheidung müsse als nicht mit Gründen versehen im Sinne von § 116 Abs.1 Nr.5, § 119 Nr.6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) angesehen werden, weil zwischen der letzten mündlichen Verhandlung und der Zustellung ein unangemessen langer --mehr als einjähriger-- Zeitraum liege. Dasselbe gelte, wenn auf die Beschlußfassung, die innerhalb der in § 104 Abs.2 FGO bestimmten Frist von zwei Wochen erfolgt sein möge, und die Übergabe des vollständig abgefaßten Urteils an die Geschäftsstelle abgestellt werde. Zusätzlich müsse im Hinblick auf diesen langen Zeitraum ggf. berücksichtigt werden, daß eine Berufsrichterin wegen Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert gewesen sei. Hilfsweise erhebt der Kläger in der Annahme, in den FG-Akten befänden sich keine Niederschriften über die mündlichen Verhandlungen vom 30.Oktober und 27.November 1985, weitere Verfahrensrügen.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die angefochtenen Bescheide aufzuheben.
Das HZA hat keinen ausdrücklichen Antrag gestellt, sich aber der Rechtsauffassung der Revision angeschlossen. Es hat --verspätet, nämlich erst einen Monat nach Zustellung der Revisionsbegründung-- Anschlußrevision eingelegt, diese jedoch wieder zurückgenommen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO), weil der geltend gemachte absolute Revisionsgrund des Fehlens von rechtlich beachtlichen Gründen (§ 119 Nr.6 FGO) vorliegt. Eine Sachentscheidung, wie sie der Kläger mit seinem dem Wortlaut nach weitergehenden Revisionsantrag erstrebt, kann nicht getroffen werden.
Im Falle der Zustellung an Verkündungs Statt, wie sie das FG in der mündlichen Verhandlung vom 27.November 1985 beschlossen hatte, muß das Urteil binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle übergeben werden (§ 104 Abs.2 FGO); entsprechend § 105 Abs.4 Satz 2 FGO genügt die Niederlegung der von den Berufsrichtern unterschriebenen Urteilsformel (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 22.Februar 1980 VI R 132/79, BFHE 130, 126, BStBl II 1980, 398, mit Nachweisen; vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., § 104 FGO Tz.3). Wie sich aus diesen Erfordernissen ergibt, muß das Urteil vor Ablauf dieser Frist beschlossen werden. Die Revision behauptet nicht, daß die Beschlußfassung im Streitfalle verspätet erfolgt sei. Es braucht mithin nicht entschieden zu werden, welche Folgen eine spätere Beschlußfassung hätte (dazu Urteil des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 11.November 1971 I C 64.67, BVerwGE 39, 51, 53, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1972, 558; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 1977, § 104 Anm.10). Es bedarf auch keines Eingehens auf die Frage, ob in der verspäteten Übergabe eines rechtzeitig beschlossenen Urteils --für sich gesehen-- ein Verfahrensfehler zu erblicken wäre (dazu BFHE 130, 126, BStBl II 1980, 398). Die Vorentscheidung kann jedenfalls mit Rücksicht auf die lange Zeit zwischen der Urteilsberatung und der Niederlegung bei der Geschäftsstelle nicht mehr als "mit Gründen versehen" gewertet werden.
In Rechtsprechung und Schrifttum ist anerkannt, daß ein Urteil auch dann nicht "mit Gründen versehen" ist, wenn zwischen seiner Beratung und Verkündung und der schriftlichen Abfassung ein so langer Zeitraum liegt, daß die zutreffende Wiedergabe des Beratungsergebnisses nicht mehr gewährleistet erscheint (vgl. v. Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8.Aufl., § 116 FGO Anm.10 a; Tipke/Kruse, a.a.O.; Gräber, a.a.O., § 105 Anm.10; Herrmann, Die Zulassung der Revision und die Nichtzulassungsbeschwerde im Steuerprozeß, 1986, Rdnr.83). Das BVerwG hat einen solchen Fall bei einer mehr als einjährigen Frist zwischen Verkündung und Zustellung und dem Hinzutreten weiterer Umstände --Verhinderung beteiligter Richter an der Unterschriftsleistung; nachlassende Erinnerung an das Beweisergebnis und den Gedankengang der Beratung-- angenommen (Urteil vom 19.März 1976 VI C 81.75, BVerwGE 50, 278, 280, HFR 1976, 479; vgl. auch Urteil vom 3.September 1982 4 CB 20/82, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 310 § 117 VwGO Nr.19, HFR 1983, 296, sowie BFH-Beschluß vom 14.August 1986 III R 44/86, BFH/NV 1987, 102). Die neuere Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat allein in einer erst ein Jahr nach der Verkündung erfolgten Zustellung den absoluten Revisionsgrund des Fehlens von Gründen gesehen (Urteil des Bundessozialgerichts vom 22.Januar 1981 10/8b RAr 1/80, BSGE 51, 122, 124, HFR 1982, 81; Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 24.Februar 1982 4 AZR 313/80, BAGE 38, 55, 58, HFR 1982, 534, und vom 11.November 1986 3 AZR 228/86, Betriebs-Berater 1987, 1394 f.). Der Senat teilt die dieser Rechtsprechung zugrundeliegende Auffassung, daß die Entscheidungsgründe eines wegen verspäteter Abfassung erst (etwa) ein Jahr nach seiner Verkündung zugestellten Urteils nicht mehr die Beurkundungsfunktion haben, die die schriftlichen Gründe des richterlichen Urteils zu erfüllen haben, und daß der Angriff gegen ein solches Urteil unzumutbar erschwert wird, weil das Ergebnis der mündlichen Verhandlung auch in der Erinnerung der Beteiligten verblaßt. Diese Mängel schließen es aus, die Gründe einer derartigen Entscheidung, auch wenn sie ausführlich gehalten sind, hinzunehmen. Auf weitere Umstände, wie die Verhinderung eines Richters an der Unterschriftsleistung, kommt es nicht an. Sie können lediglich eine Rolle spielen, wenn bei einer kürzeren als einjährigen Zeitspanne zu beurteilen ist, ob die Beurkundungsfunktion der Gründe in Frage zu stellen ist (vgl. dazu BVerwG, Beschluß vom 23.August 1983 3 B 94/82, Buchholz, 427.6, § 12 BFG Nr.17, HFR 1985, 241, und Beschluß vom 15.Januar 1987 3 C 41.85, Buchholz, 418.00 Ärzte Nr.69).
Diese Grundsätze sind auch maßgebend, wenn das Urteil aufgrund entsprechenden Beschlusses anstelle der Verkündung zugestellt wird, und zwar infolge verspäteter Abfassung des Urteils erst nach einem Jahre oder noch später. Da die Zustellung an Verkündungs Statt erfolgt, ist es im Zustellungsfalle gerechtfertigt, von dem Tage auszugehen, an dem das Urteil spätestens der Geschäftsstelle zu übergeben ist (§ 104 Abs.2 FGO). Die danach maßgebende Frist von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung entspricht der Frist, binnen der im Verkündungsfalle das Urteil spätestens zu verkünden ist (§ 104 Abs.1 Satz 1 FGO). Das Datum, das sich bei Zugrundelegung dieser Frist ergibt, ist ein sichererer Ausgangspunkt als der nach längerem Zeitablauf häufig nicht mehr ohne weiteres feststellbare Tag der Beratung, deren Gleichsetzung mit der Verkündung der VIII. Senat des BFH in Betracht gezogen hat (n.v. Urteil vom 8.Juli 1981 VIII R 79/80).
Im Streitfalle liegt zwischen dem spätesten Zeitpunkt für die Niederlegung des Urteils bei der Geschäftsstelle und seiner Zustellung, bedingt durch die verspätete Abfassung des Urteils, ein Zeitraum von mehr als 13 Monaten. Mit dieser Verspätung ist der Revisionsgrund nach § 119 Nr.6 FGO gegeben. Auf etwaige weitere Mängel kommt es nicht an. Daß das Urteil auf dem entscheidenden Mangel des Fehlens der Gründe beruht, wird kraft Gesetzes unwiderleglich vermutet.
Fundstellen
Haufe-Index 61598 |
BStBl II 1988, 283 |
BFHE 151, 328 |
BFHE 1988, 328 |