Entscheidungsstichwort (Thema)

Zollerlaß in besonderen Fällen

 

Leitsatz (NV)

1. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein besonderer, den Erlaß von Zoll rechtfertigender Fall anzunehmen und das entsprechende Verfahren bei der EU-Kommission einzuleiten ist.

2. Ist die Annahme eines besonderen Falles (1.) ausgeschlossen, wenn bei einem Diebstahl von Zollagergut die ausdrücklich geregelten Voraussetzungen für den Erlaß/die Erstattung von Zoll nicht vorliegen, und gilt dies ggf. auch, wenn persönliche Billigkeitsgründe in Betracht kommen? (Vorlage an den EuGH).

 

Normenkette

ZK Art. 239 Abs. 1; ZKDV Art. 900 Abs. 1 Buchst. a, Art. 905 Abs. 1

 

Tatbestand

Nachdem aus dem dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) bewilligten, unter Zollmitverschluß stehenden privaten Zoll lager im Beitrittsgebiet im Januar 1994 ca. 3,2 Mio Stück überwiegend Dritten gehörende Zigaretten entwendet worden waren, nahm das beklagte und revisionsbeklagte Hauptzollamt (HZA) den Kläger als Abgabenschuldner für den Zoll und die anderen Eingangsabgaben auf die Zigaretten in Anspruch. Die Klage gegen die Steuerfestsetzung wurde rechtskräftig abgewiesen.

Den Antrag des Klägers, ihm die Eingangsabgaben aus Billigkeitsgründen zu erlassen, lehnte das HZA ab. Die mit dem Begehren, den Erlaßantrag gemäß Gemeinschaftszollrecht der Kommission vorzulegen, verbundene Anfechtungsklage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) urteilte -- Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1995, 1067 --, die Regelungen des innerstaatlichen Rechts über Billigkeitserweise würden durch das Gemeinschaftsrecht vollständig verdrängt. Die Nichtberücksichtigung persönlicher Billigkeitsgründe sei noch nicht als rechtsstaatswidrig anzusehen. Die Voraussetzungen für eine Vorlage an die Kommission (Art. 905 Abs. 1 der Zollkodex- Durchführungsverordnung -- ZKDVO --) seien nicht erfüllt, da ein "besonderer Fall" nicht vorliege (vgl. Art. 900 Abs. 1 Buchst. a ZKDVO).

Der Kläger greift mit seiner Revision die Vorentscheidung unter mehreren Gesichtspunkten an. Entgegen der Ansicht der Vor instanz sei bei der Entscheidung über den Erlaßantrag im Rahmen von Art. 905 ZKDVO Ermessen auszuüben; der unbestimmte Rechtsbegriff "besonderer Fall" sei unter Rückgriff auf nationale Billigkeitsregelungen auszufüllen. Art. 900 Abs. 1 Buchst. a ZKDVO enthalte nur eine beispielhafte Aufzählung von Einzelfällen, in denen ein Erlaß geboten sei; ein Umkehrschluß, hier für den Diebstahl von nicht identifizierbaren Massenwaren, sei nicht zulässig. Die Entscheidungspraxis der Kommission stehe mangels Vergleichbarkeit der Annahme einer Besonderheit nicht ent gegen, zumal auch die eingelagerten Zigaretten nicht mehr hätten versichert werden können. Sachliche Billigkeitsgründe ergäben sich daraus, daß dem Fiskus infolge Entwendung der unverkäuflichen, weil nicht verkehrsfähigen Zigaretten Steuern zuflössen, sowie aus dem besonderen Lagerrisiko im Beitrittsgebiet, persönliche lägen vor, weil die Abgaben nicht abwälzbar seien und ihre Einziehung zur Vernichtung seiner -- des Klägers -- Existenz führe. Unter Berücksichtigung der laut Statistik großen Mengen an wiedergefundenen und beschlagnahmten Zigaretten müsse im übrigen davon ausgegangen werden, daß in diesen auch das entwendete Lagergut enthalten sei.

 

Entscheidungsgründe

Bei der Entscheidung über die Revision sind Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu beachten, deren Auslegung nicht offenkundig erscheint. Der Senat ist mithin verpflichtet, zu deren Auslegung eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einzuholen (Art. 177 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft).

1. Der Revision des Klägers wäre der Erfolg zu versagen, wenn das FG die Ablehnung des Erlaßantrags zutreffend bestätigt haben sollte. Das angefochtene Urteil und die Verwaltungsentscheidungen wären indes aufzuheben (ggf. unter Verurteilung des HZA zur Einleitung des Verfahrens nach Art. 905 ZKDVO), wenn die maßgebenden gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften bei rich tiger Auslegung die Ablehnung des Erlaßantrages durch das HZA als Entscheidungszollbehörde nicht rechtfertigen sollten.

Das Begehren des Klägers auf Erlaß vom Zoll ist zunächst unter Heranziehung von Art. 239 Abs. 1 des Zollkodex (ZK) zu beurteilen. In Verbindung mit Art. 249 ZK enthält jene Vorschrift eine Ermächtigung zur normativen Festlegung "anderer" (Erlaß- bzw. Erstattungs-)Fälle -- Art. 239 Abs. 1, 1. Gedankenstrich ZK --, ferner -- 2. Gedankenstrich a.a.O. -- eine Ermächtigung zur Regelung weiterer "unbenannter" Einzelfälle, wenn Umstände vorliegen, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind.

Die Fälle der ersten Gruppe sind -- positiv -- in Art. 900 bis 903 ZKDVO aufgeführt. Der Diebstahl von Zollagergut stellt sich unter den Voraussetzungen von Art. 900 Abs. 1 Buchst. a ZKDVO als Erlaß-/Erstattungsgrund dar. Die betreffenden Voraussetzungen sind aber, wie vom FG richtig entschieden, nicht gegeben. Es fehlt bereits an der Feststellung, daß das Lagergut "kurzfristig" wiedergefunden wurde. Es konnte somit auch nicht, wie für einen Erlaß weiter erforderlich, im ursprünglichen Zustand in das Zollager zurückgeführt werden (als Zoll lagergut). Auf das Nämlichkeitserfordernis kann nicht verzichtet werden. Auch Schwierigkeiten, die sich bei der Feststellung der Nämlichkeit von Massengut (hier: Zigaretten) ergeben, lassen dies nicht zu. Damit entfällt die Möglichkeit eines selbständigen Erlasses durch die Entscheidungszollbehörde (Art. 899, 1. Gedankenstrich ZKDVO).

2. Eine dem Erlaßantrag stattgebende Entscheidung könnte, wovon auch der Kläger ausgeht, allenfalls in dem für Fälle der zweiten Gruppe (Art. 239 Abs. 1, 2. Gedankenstrich ZK) vorgesehenen Verfahren gemäß Art. 905 ff. ZKDVO, d. h. nach Bejahung der Erlaßvoraussetzungen durch die Kommission, getroffen werden. Voraussetzung ist, daß die Entscheidungszollbehörde einen besonderen Fall annimmt. Geschieht dies nicht, so lehnt sie, wie hier erfolgt, den Antrag ab (Art. 905 Abs. 1, letzter Unterabsatz ZKDVO). Eine Entscheidung der Kommission kommt dann nicht in Betracht (vgl. auch zu einem ähnlichen Zusammenhang -- Absehen von der Nacherhebung -- Urteil des Gerichtshofs vom 14. Mai 1996 C-153, 204/94, Rdnr. 81). Das Gericht hat jedoch auf eine entsprechende Klage zu prüfen, ob die von der Entscheidungszollbehörde ausgesprochene Ablehnung rechtmäßig ist oder ob auf das Vorliegen eines besonderen Falles zu schließen ist, was die Einleitung des vorgesehenen Verfahrens erfordern würde. In diesem Zusammenhang ergeben sich im Streitfall Zweifel.

a) Nicht völlig zweifelsfrei erscheint zunächst, ob die Vorlagefrage 1, wie bisher angenommen, zu bejahen ist. Der Senat neigt zwar weiterhin zu dieser Annahme, doch darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß damit ein Gesichtspunkt, der für den Ausschluß eines Erlaßfalles der Gruppe 1 maßgebend ist, in die Beurteilung, ob ein besonderer Fall vorliegt -- Gruppe 2 -- übertragen wird. Der eigenständige Charakter der Fälle dieser Gruppe wird auch in Art. 899 ZKDVO ("unbeschadet") betont. Es wird zu entscheiden sein, ob der gezogene Gegenschluß insoweit zulässig und geboten ist.

b) Die Vorlagefrage 2 stellt sich nur bei Bejahung der ersten Frage. Mit ihr möchte der Senat wissen, ob bei einem Sachverhalt der vorliegenden Art sog. persönliche Billigkeitsgründe die Annahme eines besonderen Falles rechtfertigen können. Dabei geht der Senat davon aus, daß Art. 239 Abs. 1, 2. Gedankenstrich ZK, Art. 905 Abs. 1 ZKDVO wie die Vorgängerregelung (zu dieser zuletzt Urteil des Gerichtshofs vom 18. Januar 1996 C-446/93, Slg. 1996, I-99, Rdnr. 41) eine auf Billigkeitserwägungen beruhende Generalklausel darstellt, die andere als die praktisch am häufigsten vorkommenden Fälle erfassen soll. Der Senat vermag zwar in der Berufung auf persönliche Billigkeitsgründe keinen derartigen "anderen", eher seltenen Fall zu erblicken, kann jedoch letzte Zweifel nicht ausschließen. Daß die fehlende Möglichkeit, den Verlust auf andere abzuwälzen, keinen besonderen Fall zu begründen vermag, wird sich freilich der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Vorgängervorschrift (Urteil vom 13. November 1984 Rs. 98, 230/83, Slg. 1984, 3763, 3779) entnehmen lassen. Da insoweit auf "die Beziehung zwischen dem Wirtschaftsteilnehmer und der Verwaltung" abgestellt wurde (Urteil vom 26. März 1987 Rs. 58/86, Slg. 1987, 1539, 1545), erscheint die Annahme naheliegend, daß rein persönliche Billigkeitsgründe auch im übrigen nicht erfaßt sind.

Die Vorlagefrage 2 ist entscheidungserheblich; sie kann nicht mit der Begründung, der Kläger habe durch Nichtversicherung des Lagerrisikos offensichtlich fahrlässig gehandelt, dahingestellt bleiben. Das FG hat zwar ausgeführt, der Kläger hätte das besondere Risiko vorhersehen können, wenn er etwa die Frage der Versicherbarkeit eingehend geprüft hätte. Eine Feststellung über eine -- vom Kläger verneinte -- Versicherungsmöglichkeit liegt darin aber nicht. Ob sie nicht gegeben war, wird, wenn es darauf ankommen sollte, ggf. weiterer Aufklärung bedürfen.

Aus den vorstehend angeführten Gründen hat der Senat beschlossen, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

"1. Ist Art. 905 Abs. 1 der VO (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung ... zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften -- Zollkodex-Durchführungsverordnung -- vom 2. Juli 1993 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 253/1) dahin auszulegen, daß ein "besonderer Fall, der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt" von der Entscheidungszollbehörde nicht anzunehmen ist, wenn bei einem Diebstahl von Zollagergut (Nichtgemeinschaftswaren) die Voraussetzungen von Art. 900 Abs. 1 Buchst. a der Zollkodex-Durchführungsverordnung für einen Erlaß von Zoll zugunsten des Lagerinhabers nicht erfüllt sind?

2. Bei Bejahung von Frage 1:

Gilt dies auch in einem Härtefall, wenn das Risiko des Diebstahls (1.) nicht versicherbar gewesen ist und die Zollerhebung die wirtschaftliche Existenz des Lagerinhabers vernichten würde, oder kommt bei einem derartigen Sachverhalt die Beurteilung als "besonderer Fall ... " -- Art. 905 Abs. 1 der Zollkodex-Durchführungsverordnung --, der der Kommission zur Entscheidung vorzulegen wäre, in Betracht?"

 

Fundstellen

Haufe-Index 421946

BFH/NV 1997, 447

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