Rz. 8

Nach der Grundregel des § 86 S. 1 AO werden Verwaltungsverfahren von Amts wegen (Offizialmaxime) und nach pflichtgemäßem Ermessen (Opportunitätsprinzip) eingeleitet. Allerdings gilt dies nur insoweit, als Rechtsvorschriften nicht etwas anderes vorsehen. § 86 S. 2 AO durchbricht die Grundprinzipien des S. 1 in zweierlei Hinsicht[1]: Zum einen wird das Opportunitätsprinzip immer dann durch das Legalitätsprinzip ersetzt, wenn die Finanzbehörde rechtlich verpflichtet ist, von Amts wegen oder auf Antrag tätig zu werden.[2] Zum anderen wird das Offizialprinzip durch die Dispositionsmaxime in Fällen ersetzt, in denen das Verwaltungsverfahren einen hierauf gerichteten Antrag zwingend voraussetzt.[3] Hierbei mag der Gesetzeswortlaut häufig in die Irre führen, da nicht selten beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen das Ermessen der Finanzbehörde auf Null reduziert ist und demgemäß das Verfahren zu betreiben ist. Soweit z. B. die Finanzbehörde zu der Überzeugung gelangt ist, dass ein Steuerbescheid rechtswidrig ist und der Rechtsrahmen für eine Änderung nach §§ 164f. oder §§ 172ff. AO bereitet ist, muss die Finanzbehörde die Änderung auch vornehmen. Vergleichbares gilt für das Ergreifen von Billigkeitsmaßnahmen nach §§ 163, 222, 227 AO, wobei die Verwaltung viel Mühe darauf verwendet, die Anwendungsbeispiele für das Vorliegen eines Billigkeitsgrundes (also Tatbestandsseite) zu beschreiben.[4] Auch kann die Finanzbehörde nicht nach pflichtgemäßen Ermessen darüber befinden, ob und wer eine Steuererklärung nach § 149 Abs. 1 S. 2 AO abzugeben hat. Besteht ein begründeter Anlass für die Verwirklichung eines steuerlichen Tatbestands, hat die Finanzbehörde die Abgabe einer Steuererklärung anzuordnen. Eine Anordnung "ins Blaue hinein" ist dementsprechend nicht zulässig.[5] Die zitierte Regelung dient allein dazu, die Abgabe der Steuererklärung nicht schon mit dem schlichten Hinweis auf die fehlende Pflicht zur Abgabe verweigern zu können, ohne der Finanzbehörde die Möglichkeit zu geben, die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen auf Grundlage einer unter der Strafdrohung des § 369 AO eingereichten Erklärung zu prüfen.

 

Rz. 9

Andererseits ist die Finanzbehörde beim Vorliegen einer Offenbarungsbefugnis nach § 30 Abs. 4 AO nicht schon verpflichtet, eine geschützte Information preis zu geben. Die Formulierung "... ist zulässig..." ist so verstehen, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eine Offenbarung gleichwohl unterbleiben kann, wenn insoweit gewichtige Erwägungen der Finanzbehörde entgegenstehen.

 

Rz. 10

Der Grundsatz der Amtswegigkeit ist von der für alle Verwaltungsverfahren bestehenden Verfahrensherrschaft der Finanzbehörde hinsichtlich des äußeren Ablaufs des Verfahrens und von dem im Bereich der Sachverhaltsermittlung geltenden Untersuchungsgrundsatz[6] zu unterscheiden.[7]

[1] Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Aufl. 2020, § 22 VwVfG Rz. 5.
[4] Vgl. am Beispiel eines Zinserlasses Nr. 69f AEAO zu § 233a.
[5] Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 86 AO Rz. 45.
[6] § 88 AO, Inquisitionsmaxime.
[7] Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 86 AO Rz. 18; Kopp/Ramsauer, 21. Aufl. 2020, VwVfG, § 22 VwVfG Rz. 3.

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