Rz. 109

Die Offenbarungspflicht umfasst seit dem 1.1.2015 sämtliche "unverjährte Steuerstraftaten einer Steuerart […] mindestens der letzten zehn Kalenderjahre". Im Hinblick auf die "unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart" ergibt sich aus der Anknüpfung an den Straftatbestand der Steuerhinterziehung, dass die strafrechtliche Verfolgungsverjährung[1] und nicht die steuerliche Festsetzungsverjährung[2] maßgeblich ist.[3] Unverjährte Steuerhinterziehungen i. d. S. sind somit alle Taten, bei denen noch keine Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist. Insoweit ist die unterschiedliche Dauer der Verjährung zu beachten, die für "normale" Steuerhinterziehung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB fünf Jahre und nach § 376 Abs. 1 AO a. F. zehn Jahre für besonders schwere Fälle nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1–6 AO beträgt bzw. für die am 29.12.2020, dem Tag des Inkrafttretens der aktuellen Fassung des § 376 Abs. 1 AO[4], noch nicht verjährten besonders schwere Fälle nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1–6 AO fünfzehn Jahre. Diese verlängerte Verjährungsfrist ist mithin für alle ab dem 30.12.2010 beendeten Taten i. S. d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1-6 AO zu berücksichtigen, auf die sich die Verjährungsverlängerung auswirkt.

 

Rz. 109a

Insoweit könnte allerdings in sehr speziellen Einzelfällen zu berücksichtigen sein, dass durch das Zweite Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise[5] § 376 Abs. 3 AO im Hinblick auf die Verjährungsfrist der Steuerhinterziehung eingefügt wurde, nach dem die absolute Verfolgungsverjährung für die in § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1-6 AO genannten Fällen besonders schwerer Steuerhinterziehung auf das Zweieinhalbfache der gesetzlichen Verjährungsfrist und damit aufgrund der durch das JStG 2020 verlängerten Verjährungsfrist von fünfzehn Jahren auf insgesamt 37 1/2 Jahre verlängert wurde. Der Gesetzgeber verfolgt damit das Ziel, der Justiz mehr Zeit zu verschaffen, um komplexe Steuerstrafverfahren zu bearbeiten und abzuschließen. Im Hinblick auf das Steuerstrafrecht kommt dieser Gesetzesänderung Bedeutung zu, da bei der Prüfung der Vollständigkeit der Selbstanzeige bei entsprechenden Taten nun die neue maximale strafrechtliche Verjährung von 37 1/2 Jahren in den Blick zu nehmen ist.[6]

Relevant wird dies im Rahmen des § 371 AO jedoch nur, wenn die reguläre fünfzehnjährige Verjährung eingetreten wäre, die Verjährung jedoch unterbrochen ist ohne dass zugleich eine Selbstanzeige ausgeschlossen ist. Dies wäre z. B. denkbar, wenn gem. § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB die Vernehmung des Beschuldigten oder die Bekanntgabe des Strafverfahrens angeordnet wurde, ohne dass diese Anordnung ausgeführt wurde oder der Beschuldigte davon erfuhr.[7]

 
Hinweis

Bei der zukünftigen Abgabe von Selbstanzeigen, die im Hinblick auf das Vollständigkeitsgebot einen mehr als zehnjährigen Zeitraum erfassen müssen, wird in der Praxis zu beachten sein, dass die sich aus § 147 Abs. 3 AO ergebende Aufbewahrungspflicht nicht ebenfalls auf fünfzehn Jahre verlängert wurde. Folglich wird es mitunter erforderlich sein, im Rahmen der Selbstanzeige (großzügig) zu schätzen.

 

Rz. 110

Der Gesetzgeber hat neben der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung nun aufgrund der divergierenden steuerlichen Verjährungsfristen einen Mindesterklärungszeitraum von zehn Jahren eingefügt[8], wobei unklar ist, wie dieser Zeitraum im Einzelnen anzuwenden ist. Nach dem Wortlaut ist es naheliegend, dass es sich insoweit um abgeschlossene vollständige Kalenderjahre und nicht um eine stichtagsbezogene Betrachtung handelt.[9] Folglich ist dieser Zeitraum unabhängig von der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung und auch von der steuerlichen Festsetzungsverjährung, was zu erhöhter Rechtsklarheit führen soll, da die Berechnung der Verjährungsfristen insb. im Hinblick auf An- und Ablaufhemmungen mitunter komplex sein kann.[10]

Man muss aber wohl aufgrund der drei auseinanderfallenden Fristen – Strafverfolgungsverjährung, Festsetzungsverjährung und Zehn-Jahresfrist der Selbstanzeige – sowie den mit der Zehn-Jahresfrist verbundenen Unklarheiten feststellen, dass der Gesetzgeber die von ihm intendierte Rechtsklarheit eindeutig verfehlt hat.

 

Rz. 111

Im Einzelnen ist die Formulierung "innerhalb der letzten zehn Kalenderjahre" noch nicht geklärt, sodass zunächst fraglich ist, ob auf die zurückliegenden zehn Besteuerungszeiträume[11] oder auf die in den letzten zehn Kalenderjahren begangenen Taten abzustellen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich im letztgenannten Fall der Berichtigungsverbund auf deutlich mehr als zehn Besteuerungszeiträume erstrecken kann. Für die erste Auslegung spricht die Gesetzesbegründung: "Ausgangspunkt für die Berechnung der fiktiven Frist von zehn Jahren ist die Abgabe der Selbstanzeige. Die Berichtigungspflicht besteht für alle Steuerstraftaten einer Steuerart für die zurückliegenden zehn Kalenderjahre." Darüber hinaus führt eine solche Auslegung eher zur vom Gesetzgeber angestrebten Rechtsklarheit.

 

Rz. 112

Es kann hingegen nicht übersehen w...

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