Rz. 137

Als bekannt haben auch solche Tatsachen und Beweismittel zu gelten, die der Finanzbehörde hätten bekannt sein müssen und deren Unkenntnis auf einer Verletzung der Ermittlungspflicht beruht.[1]

Voraussetzung dafür, dass Tatsachen wegen einer Pflichtverletzung der Finanzbehörde als bekannt gelten, ist, dass der Tatbestand des § 173 Abs. 1 AO vorliegt, d. h. dass die Tatsachen, ohne Berücksichtigung der Pflichtverletzung, "neu" sind. Das ist nicht der Fall, wenn die Tatsachen der Finanzbehörde bekannt waren, weil sie sich beispielsweise aus den von der Veranlagungsabteilung geführten Steuerakten ergaben. Da dann die Tatsachen "bekannt" sind, stellt sich die Frage, ob sie wegen einer Pflichtverletzung der Finanzbehörde als "bekannt" zu gelten haben, nicht mehr. In diesem Fall kommt es auch nicht zur Abwägung der Pflichtverletzung der Finanzbehörde gegenüber der Verletzung der Mitwirkungspflicht durch den Stpfl.[2]

 

Rz. 137a

Zu berücksichtigen ist hierbei jedoch auch das Verhältnis zu § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. c AO. Wenn die Unkenntnis des FA von dem wahren Sachverhalt auf einer arglistigen Täuschung durch den Stpfl. oder durch einen Dritten beruht, ist die Steuerfestsetzung nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. c AO zu ändern, auch wenn dem FA Ermittlungsfehler vorzuwerfen sind. Eine arglistige Täuschung ist dabei jede absichtliche falsche Darstellung des Sachverhalts durch den Stpfl. In diesen Fällen kann also eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wegen Ermittlungsfehler des FA ausgeschlossen (obwohl praktisch die Pflichtverletzung des Stpfl. überwiegen wird, vgl. Rz. 159f.), nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. c AO aber möglich sein. Möglich ist die geschilderte Konstellation aber, wenn ein Dritter die arglistige Täuschung vorgenommen hat. Dann liegt keine Pflichtverletzung des Stpfl. vor, sodass die Ermittlungsfehler des FA die Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ausschließen, trotzdem aber eine Änderung des Steuerbescheids nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. c AO möglich ist.[3]

 

Rz. 138

Der Rechtsgrund dieses ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals des § 173 AO liegt darin, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit Vorrang hat, wenn die Finanzverwaltung die fehlerhafte Steuerfestsetzung durch die Verletzung von Verfahrenspflichten (Aufklärungspflichten) verursacht hat. Die Finanzbehörde ist dann nach Treu und Glauben daran gehindert, die Steuerfestsetzung zulasten des Stpfl. zu ändern, wenn Tatsachen bekannt werden, die der Finanzbehörde bei ordnungsmäßiger Erfüllung ihrer Ermittlungspflichten rechtzeitig bekannt geworden wären.[4] Die Durchbrechung der Bestandskraft ist nur gerechtfertigt, wenn die Steuerfestsetzung trotz eines rechtmäßigen Verwaltungsverfahrens unrichtig ist. Die Finanzverwaltung hat es in der Hand, statt einer endgültigen Steuerfestsetzung eine nach § 164 AO eine unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Steuerfestsetzung zu erlassen. Wenn sich der Finanzverwaltung Zweifel bei der Prüfung der Steuererklärung und der eingereichten Unterlagen ohne Weiteres aufdrängen mussten, darf sie diese nicht ignorieren. Sie muss von den verfahrensrechtlichen Möglichkeiten Gebrauch machen und entweder die Angelegenheit aufklären oder einen Bescheid unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassen. Tut sie beides nicht, kann sie später nicht die Bestandskraft durchbrechen, weil sie von der Möglichkeit der Verhinderung des Eintritts der Bestandskraft keinen Gebrauch gemacht hat.[5]

 

Rz. 138a

Das FA verletzt seine Ermittlungspflicht insbesondere dann, wenn es Zweifelsfragen nicht nachgeht, die sich bei der Prüfung der eingereichten Unterlagen einschließlich der Steuerklärung aufdrängen. Dies hat der BFH in einem Fall angenommen, in dem das FA ausdrücklich auf die Abgabe einer förmlichen Steuererklärung verzichtet hatte und stattdessen von dem Stpfl. bestimmte Angaben gefordert hatte.[6] Das FA verletze seine Ermittlungspflicht, wenn die geforderten Angaben für die sachgerechte Beurteilung des Steuerfalls nicht ausreichten und das FA auch später keine Ermittlungen anstelle. Beantworte der Stpfl. die ihm gestellten Fragen vollständig und zutreffend, habe er seine Mitwirkungspflicht erfüllt. Der Stpfl. sei insbesondere nicht verpflichtet, von sich aus zu prüfen, ob die gestellten Fragen zur ordnungsgemäßen Entscheidung über den Steuerfall ausreichten oder ob weitere Angaben erforderlich seien. Es liege in diesen Fällen, in denen auf eine förmliche Steuerklärung verzichtet worden sei, im Verantwortungsbereich der Finanzbehörde, die entscheidungserheblichen Fragen zu stellen.

Verallgemeinernd kann man aus dieser Entscheidung schließen, dass das FA an einer Änderung des Steuerbescheids gehindert ist, wenn es freiwillig auf vorhandene Ermittlungsmöglichkeiten verzichtet, der Stpfl. seine Mitwirkungspflichten aber erfüllt hat.

 

Rz. 138b

Führt die Finanzverwaltung die Steuerfestsetzung entsprechend § 155 Abs. 4 AO im ausschließlich automationsgestützten Verfahren unter Verwendung der Angaben des Stpfl. und der sonsti...

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