Rz. 70

Grundsätzlich hängen der Umfang und die Ausprägung der Ermittlungen von der Aufklärungsbedürftigkeit des Sachverhalts ab. Aufgrund der verschiedenen partiell gegenläufigen Rechtsgrundsätze kann es im Einzelfall aber zu einer Einschränkung des Prüfungsumfangs kommen.[1]

 

Rz. 71

Die Wahl der Beweismittel muss verhältnismäßig sein (vgl. Rz. 35). Es dürfen deshalb nur diejenigen Beweismittel herangezogen werden, die für die Ermittlung des Sachverhalts erforderlich, verhältnismäßig i. e. S., erfüllbar und zumutbar sind. Obwohl die Sachaufklärung der gleichmäßigen Besteuerung dient, ist im Steuerrecht ebenso wie im Strafrecht eine Sachaufklärung um jeden Preis nicht zulässig. Verletzt eine Sachaufklärungsmaßnahme Grundrechte, zieht dies regelmäßig ein Verwertungsverbot nach sich (vgl. Rz. 82f.).

 

Rz. 72

Die Behörde muss die Beeinträchtigung der beteiligten Personen durch die Ermittlungstätigkeit möglichst gering halten, unnötige Beweiserhebungen vermeiden und stets das mildeste Beweismittel einsetzen.[2] Ferner hat die Sachverhaltsermittlung dort zu enden, wo weitere Bemühungen der Behörde im Verhältnis zum Erfolg nicht mehr vertret- und zumutbar sind. Erfolg i. d. S. ist aber nicht die steuerliche Auswirkung, sondern die Gewinnung verbesserter Erkenntnis über die Tatsachen. Hat der Beteiligte z. B. einen unbegründeten Rechtsbehelf eingelegt, so braucht die Behörde nicht erneut Ermittlungen anzustellen, sondern kann sich auf die Überprüfung des Verwaltungsakts nach Aktenlage beschränken.[3] Diesen allgemeinen tatsächlichen und rechtlichen Grenzen der Ermittlungstätigkeit versuchen die typisierenden Verwaltungsanweisungen über die Art und den Umfang der Prüfung steuerlicher Sachverhalte Rechnung zu tragen (vgl. Rz. 2).

 

Rz. 73

Grenzen der Ermittlungstätigkeit – und damit Minderungen des Beweismaßes – ergeben sich auch aus der verfassungsrechtlichen Garantie des Schutzes der Menschenwürde[4] und der Intimsphäre.[5] Diese Grundrechtsgarantien haben einige einfachgesetzliche Normen wie §§ 30, 102 AO, § 136a StPO im Blick. Aus der Verpflichtung zur vollständigen Untersuchung folgt aber, dass die Finanzbehörde auch Tatsachen aufzuklären hat, die im engsten persönlichen oder familiären Bereich liegen oder die Intimsphäre berühren. Diese Bereiche schaffen daher nicht per se einen ermittlungsfreien Raum. Es muss aber einen hinreichenden Anlass für die Ermittlungen geben. Die Anforderungen an den Anlass sind umso größer, je intensiver die Maßnahme in den Kernbereich des grundrechtlich geschützten Bereichs eingreift.[6] Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Zweck-Mittel-Verhältnis) darf ein an sich geeignetes und erforderliches Mittel zur Sachaufklärung nicht angewandt werden, wenn die davon ausgehenden Grundrechtseinschränkungen schwerer wiegen, als die durchzusetzenden Allgemeininteressen.[7]

 

Rz. 74

Die Ermittlungen müssen insgesamt mit der gebotenen Zurückhaltung erfolgen. Auch ist die Entscheidungserheblichkeit der zu verifizierenden Tatsachen mit äußerster Sorgfalt zu prüfen.[8] Sind alle im Einzelfall betroffenen Personen jedoch mit der Sachverhaltsaufklärung innerhalb ihrer Privatsphäre ausdrücklich einverstanden, wird dadurch weder die Menschenwürde noch die Intimsphäre verletzt.[9] Eine spätere Einwilligung der betroffenen Person rechtfertigt dagegen die vorher erfolgte Anwendung eines nicht verhältnismäßigen Mittels zur Sachverhaltsermittlung nicht.[10]

Rz. 75 einstweilen frei

 

Rz. 76

Auch aus einer Verletzung der Mitwirkungspflichten des Stpfl. kann sich eine Begrenzung der Ermittlungspflichten des FA ergeben.[11] Kann der Sachverhalt wegen unzureichender Mitwirkung des Stpfl. nicht hinreichend aufgeklärt werden, verringert dies das Beweismaß und das FA kann sich mit einem geringeren Grad an Überzeugung begnügen, als dies i. d. R. geboten ist.[12]

[1] Rz. 65, 72; Klein/Rätke, AO, 17. Aufl. 2023, § 88 Rz. 43.
[2] Vgl. auch die gesetzliche Abstufung der Beweismittel in § 92 AO.
[5] Art. 10 und 13 GG.
[6] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 88 AO Rz. 25; Drüen, in HHSp, AO/FGO, § 88 AO Rz. 189ff.
[8] Für die Frage des Bestehens der ehelichen Lebensgemeinschaft BFH v. 5.10.1966, VI 42/65, BStBl III 1967, 84; zur Frage der Aufklärungspflicht bei entsprechendem Beweisangebot des Beteiligten BFH v. 28.11.1967, II 72/63, BStBl II 1968, 239.
[9] BFH v. 28.11.1967, II 72/63, BStBl II 1968, 239; BFH v. 26.4.1985, VI R 68/82, BStBl II 1985, 467; Drüen, in HHSp, AO/FGO, § 88 AO Rz. 192; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 88 AO Rz. 26.
[11] Rz. 39ff.; Klein/Rätke, AO, 17. Aufl. 2023, § 88 Rz. 43, 45; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 88 AO Rz. 24.
[12] Drüen, in HHSp, AO/FGO, § 88 AO Rz. 223; Klein/Rätke, AO, 17. Aufl. 2023, § 88 Rz. 45 m. w. N.

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