Rn. 42

Stand: EL 139 – ET: 10/2019

§ 39 Abs 2 Nr 1 S 1 AO ist ein kodifizierter Grundsatz wirtschaftlicher Betrachtungsweise (BT-Drucks VI/1982, 113; BFH v 21.05.1971, III R 125–127/70, BStBl II 1971, 72; s auch bereits Seeliger, Der Begriff des wirtschaftlichen Eigentums im Steuerrecht, 1962, 2). Die Zurechnung von WG (einschließlich Zurechnungsänderungen) als Ausdruck steuerlicher (Änderungen der) Leistungsfähigkeit ist – wie die Zurechnung nach § 246 Abs 1 S 2 HGB – in wirtschaftlicher Betrachtungsweise vorzunehmen (zB BFH v 21.05.2014, I R 42/12, BFH/NV 2014, 1608). Weicht der wirtschaftliche Gehalt eines Zustands oder Vorgangs von der zivilrechtlichen Form in einer Weise ab, dass bei Zurechnung eines WG in formalrechtlicher Betrachtung eine Verfehlung des Normzwecks – Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – droht, ist von den Zurechnungsvorgaben des Zivilrechts zugunsten des tatsächlich Gewollten und Bewirkten abzurücken (Beisse, StuW 1981, 11f sowie bereits Hannack, Das wirtschaftliche Eigentum iSd § 11 StAnpG, 1962, 3).

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise hat sich als teleologische Auslegungsregel insb aus dem Erfordernis heraus entwickelt, auf bloße rechtstechnische Einkleidung einer Gestaltung aufbauende Steuerumgehungsstrategien wirksam zu unterbinden, indem nicht ausschließlich die rechtliche Form, sondern weitergehend die wirtschaftlichen Wirkungen einer Gestaltung in den Blick genommen und wirtschaftlich vergleichbare, gleiche Leistungsfähigkeit indizierende Vorgänge/Zustande identifiziert und einer gleichen steuerlichen Behandlung (Zurechnung) zugeführt werden. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise wehrt rechtsformalistische Differenzierungen ab und sichert die Gleichheit der Besteuerung. Der Ausnahmecharakter der Zurechnung nach Maßgabe des wirtschaftlichen Eigentums ist als Ausdruck wirtschaftlicher Betrachtungsweise in verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden (BVerfG v 16.12.1970, 1 BvR 210/68, BStBl II 1971, 381; vgl auch BVerfG v 03.06.1992, 1 BvR 583/86, HFR 1993, 36: wirtschaftliche Betrachtungsweise als "eine im ESt-Recht angelegte autonome Beurteilung eines zivilrechtlichen Sachverhalts"). Dieser ist steuerlich insb aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung vielmehr erforderlich.

Der Maßstab der erforderlichen wirtschaftlichen Betrachtung ist dem jeweiligen Steuergesetz zu entnehmen, eine freischwebende wirtschaftliche Betrachtungsweise ist ausgeschlossen (OLG Mchn v 14.08.2013, 3 U 1530/11, GWR 2013, 414 zu § 1 Abs 2a GrEStG). Ohne Maßstabsvorgaben wären subjektiv ebenso wie objektiv ohne Rangordnung unbestimmt viele in wirtschaftlich ausgerichteter Betrachtungsweise abgeleitete Standpunkte denkbar, was weder zu einer gleichmäßigen noch zu einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung führt. Für die steuerliche Beurteilung heranzuziehen ist nicht eine beliebige wirtschaftlich ausgerichtete Betrachtungsweise, sondern eine wirtschaftliche Betrachtung der die ökonomische Realität in Bezug nehmenden Tatbestände in ihrem Sinn- und Zweckzusammenhang nach dem gesetzlich jeweils bestimmten Maßstab.

Insoweit bezeichnend ist die (kurze) Historie des durch das JStG 1997 v 20.12.1996, BGBl I 1996, 2019 in das GrEStG eingefügten, bis zum 31.12.1999 geltenden Fassung des § 1 Abs 2a GrEStG, der die wirtschaftliche Betrachtungsweise als tatbestandsersetzendes Blankett verwendete und auf dieser Grundlage auch wirtschaftliche Änderungen des Gesellschafterbestandes als grunderwerbsteuerbaren Vorgang zu erfassen versuchte (§ 1 Abs 2a GrEStG idF des JStG 1997: "[…] Eine wesentliche Änderung des Gesellschafterbestandes ist anzunehmen, wenn sie bei wirtschaftlicher Betrachtung eine Übertragung des Grundstücks auf die neue PersGes darstellt"). Da der Gesetzgeber einen rechtlichen Maßstab für die vorzunehmende "wirtschaftliche Betrachtung" nicht vorgegeben hatte, war die Vorschrift zu unbestimmt, damit nicht tatbestandsauslösend (BFH v 30.04.2003, II R 79/00, BStBl II 2003, 890).

Für die in § 39 AO angeordnete wirtschaftliche Betrachtungsweise gibt der Gesetzgeber sowohl einen klaren rechtlichen Rahmen als auch den Maßstab für eine hiervon abweichende Zurechnung vor. Die Anerkennung der grundlegenden Güterzuordnungsfunktion zivilrechtlichen Eigentums durch § 39 Abs 1 AO im Sinne einer Vorherigkeit des Zivilrechts unter Erweiterung der zivilrechtlichen Bezugsbasis auf WG als steuerrechtliche Zurechnungsobjekte und die Beschränkung einer abweichenden Zurechnung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten auf Zustände/Vorgänge mit hinreichend starker Ausprägung der Abweichung vom rechtlichen Rahmen der Gestaltung stehen einer "unkontrollierten wirtschaftlichen Betrachtungsweise"durchgreifend entgegen (BGH v 06.11.1995, II ZR 164/94, NJW 1996, 458; vgl auch Breidert/Moxter, WPg 2007, 913: "Verrechtlichung begrenzt lediglich eine unkontrollierte, gesetzesfreie, wirtschaftliche Betrachtungsweise"). Die in § 39 Abs 2 Nr 1 AO formulierten Anforderungen an eine vom Zivilrecht abweichenden Zurechnung...

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