Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf deutsches Kindergeld trotz Aufnahme des Kindes in den Haushalt der Großmutter in Polen

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Anspruch einer in Deutschland selbständig Tätigen Mutter auf deutsches Kindergeld für ein Kind, für das in Polen kein Anspruch auf Familienleistungen besteht, entfällt unter der seit Mai 2010 geltenden Rechtslage nicht schon deshalb, weil das Kind bei der Großmutter in Polen lebt.

 

Normenkette

EStG § 64; VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 68; EStG § 62

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 10.03.2016; Aktenzeichen III R 66/13)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Klägerin für ihre Tochter E (im Folgenden kurz E, geboren 14.01.1998), die im Haushalt ihrer Großmutter J. H. in Polen lebt, Kindergeld zusteht.

Die Klägerin besitzt die polnische Staatsangehörigkeit und wohnt in C. Zum 01.06.2008 hat sie ein Gewerbe in Deutschland angemeldet. Die polnischen Behörden haben auf dem Vordruck E 411 am 28.11.2008 bestätigt, dass die Großmutter ab dem 01.05.2008 bis „laufend” keinen Anspruch auf Familienleistungen in Polen habe, weil die „Vorschriften des Gesetzes nicht erfüllt worden” seien (Bl. 6f. der Kindergeldakte – KgA –). In einer weiteren, ebenfalls auf dem Vordruck E 411 ausgestellten Bescheinigung vom 08.04.2011 (Bl. 45 KgA) heißt es, dass die Klägerin keinen Kindergeldantrag gestellt habe.

Mit Bescheid vom 04.02.2009 setzte die Beklagte zugunsten der Klägerin u. a. für ihre Tochter E Kindergeld ab Mai 2008 fest. Mit Bescheid vom 07.09.2011 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 Abs. 3 EStG ab September 2011 auf mit der Begründung, dass das Kind im Haushalt der Großmutter in Polen lebe und die Großmutter deshalb gemäß § 64 Abs. 2 S. 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt sei.

Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein. Die Beklagte half dem Einspruch mit Bescheid vom 29.11.2011 dahingehend ab, dass die Kindergeldfestsetzung nunmehr erst ab Oktober 2011 aufgehoben wurde. Im Übrigen wies sie den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 01.12.2011 als unbegründet zurück. Sie hielt hierbei daran fest, dass die Großmutter vorrangig kindergeldberechtigt sei. Auch wenn die Großmutter nicht selbst den deutschen Rechtsvorschriften unterliege, sei nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 10.10.1996, Rechtssache C-245/94 – Hoever/Zachow; Urteil vom 07.06.2005, Rs. C-543/03 – Dodl/Onerhollenzer und Urteil vom 07.07.2005, Rs. C-153/03 – Weide, verheiratete Schwarz) dennoch ihr das Kindergeld gemäß § 1 BKKG i. V. m. Art. 67, 68 VO zu zahlen.

Mit der erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Aufhebung des Aufhebungsbescheids. Sie macht geltend, dass ihre Tochter E während der Schulzeit bei der Großmutter J. H. in Polen lebe und in den Schulferien bei ihr, der Klägerin. Das Kind lebe von den Einkünften, die sie – die Klägerin – erziele. Es habe keine Ansprüche auf Familienleistungen in Polen.

Entgegen der Auffassung der Beklagten sei die Großmutter auch nicht vorrangig kindergeldberechtigt. Anspruchsberechtigter im Sinne des § 64 EStG sei nur, wer selbst die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG bzw. § 1 Abs. 1 Nr. 1-4 Bundeskindergeldgesetz erfüllte. Dies sei bei der Großmutter nicht der Fall, weshalb diese auch keinen Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht für E haben könne.

Auch stehe der Kindergeldfestsetzung für den Streitzeitraum Oktober 2011 bis Dezember 2011 kein etwaiger Anspruch des Kindesvaters entgegen. Denn dieser sei am 07.05.2011 in C verstorben.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Aufhebungsbescheid vom 07.09.2011, geändert am 29.11.2011, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 01.12.2011 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie wiederholt im Wesentlichen die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Kindergeldakte Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht durch Gerichtsbescheid (§ 90a Abs. 1 FGO).

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Aufhebungsbescheid vom 29.11.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

1. Streitzeitraum sind – wie die Klägerin mit Schriftsatz vom 30.01.2013 klargestellt hat – die Monate Oktober 2011 (Beginn der Kindergeldaufhebung) bis Dezember 2011 (Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung).

2. Welchen Rechtsvorschriften eine Person in Sachen Familienleistungen, zu denen auch das Kindergeld gehört, unterliegt, bestimmt sich bei grenzüberschreitenden Sachverhalten für Streitzeiträume ab Mai 2010 nach Art. 11 ff. der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates des Europäischen Union vom 29.04.2004. Nach Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der VO (EG) Nr. 883/2004 unterliegen Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates. Dies ist bei der Klägerin, die seit 2008 in Deutschland selbständig tätig ist, gem. Art. 11 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 3a der VO (EG) Nr. 883/2004 das Recht der Bundesrepublik Deutschland.

Die Großmutter unterlie...

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