Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung bestandskräftiger Kindergeldfestsetzung und BVerfG-Rechtsprechung zur Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge bei der Grenzbetragsberechnung des § 32 Abs. 4 EStG

 

Leitsatz (redaktionell)

  1. Hat die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung aufgrund der Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen in die Grenzbetragsberechnung bestandskräftig abgelehnt, obwohl im Lichte der später ergangenen Entscheidung des BVerfG materiell-rechtlich die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch erfüllt waren, so steht einer rückwirkenden Änderung dieser unrichtigen Festsetzung die Bindungswirkung des Ablehnungsbescheides entgegen.
  2. In der auf der Entscheidung des BVerfG beruhenden nachträglichen Erkenntnis der fehlerhaften Rechtsanwendung liegt weder eine neue Tatsache i.S.d. § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO noch eine Änderung der für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse i.S.d. § 70 Abs. 2 EStG.
  3. § 70 Abs. 4 EStG gestattet nur dann eine Aufhebung der Kindergeldfestsetzung, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag entgegen einer früheren, in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht ergangenen Prognoseentscheidung der Familienkasse über- oder unterschreiten. Daran fehlt es, wenn die Einkommensverhältnisse für ein abgelaufenes Kalenderjahr vollumfänglich bekannt waren und daher keine. Prognoseentscheidung zu treffen war.
 

Normenkette

EStG § 32 Abs. 4 S. 2, § 70; BVerfGG § 79 Abs. 2; AO §§ 130-131, 172 Abs. 1 Ziff. 2d, § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 2

 

Streitjahr(e)

2002

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 28.06.2006; Aktenzeichen III R 13/06)

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung von Kindergeld für das Jahr 2002.

Der Kläger ist der Vater des am 23. März 1978 geborenen Niklas. Der Sohn begann am 1. September 2000 eine Ausbildung zum Informationselektroniker.

Unter dem 18. Juni 2003 beantragte der Kläger die Gewährung von Kindergeld u. a. für das Jahr 2002. Ausweislich der eingereichten Lohnsteuerbescheinigung für das Jahr 2002 betrug der Bruttoarbeitslohn des Sohnes 4.605 Euro und die Sozialversicherungsbeiträge beliefen sich auf 962,60 Euro. Darüber hinaus bezog der Sohn eine Halbwaisenrente in Höhe von 1.764,72 Euro sowie eine Berufsausbildungsbeihilfe in Höhe von 3.613,81 Euro. Dazu erklärte der Kläger Werbungskosten des Sohnes für das Jahr 2002 bedingt durch Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in Höhe von insgesamt 2.298,40 Euro.

Der Beklagte errechnete in der Folgezeit für das Jahr 2002 Gesamteinkünfte des Sohnes in Höhe von 7.505,12 Euro und lehnte sodann mit Bescheid vom 5. August 2003 die Festsetzung des Kindergeldes für die Zeit vom 1. Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2002 unter Hinweis darauf, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes Niklas mehr als 7.188 Euro betrügen, ab.

Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Mit einem Schreiben, welches am 29. Juli 2005 beim Beklagten einging, beantragte der Kläger erneut für seinen Sohn Niklas Kindergeld für den Zeitraum vom 1. Januar 2002 bis 31. Dezember 2002. Zur Begründung führte er aus, gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts habe sich die Anrechnung der Sozialversicherungsbeiträge auf die Ausbildungsvergütung geändert. Nach der neuen Berechnung würde nach Abzug der Werbungskosten (Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und Abzug der Sozialbeiträge) ein Nettogehalt von 6.863,63 Euro verbleiben, somit wären die Anspruchsvoraussetzungen wieder gegeben.

Mit Bescheid vom 8. August 2005 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab. Zur Begründung führte er aus, mit Bescheid vom 5. August 2003 sei die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind Niklas für das Kalenderjahr 2002 abgelehnt worden. Die Bestandskraft des Bescheides und damit die Bindungswirkung sei genau für diesen Zeitraum eingetreten. Einer erneuten Entscheidung auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 für den vorgenannten Zeitraum stehe die Bestandskraft des Bescheides entgegen, da hierin eine verbindliche Regelung getroffen worden sei. Aus verfahrensrechtlichen Gründen sei daher der Antrag auf Korrektur für den Zeitraum vom 1. Januar 2002 bis 31. Dezember 2002 abzulehnen.

Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 23. August 2005 Einspruch ein. Zur Begründung machte er geltend, dass für alle Fälle aus der Vergangenheit, in denen Kindergeldbescheide oder auch Steuerbescheide bestandskräftig geworden seien, weil die Eltern sie z. B. wegen Treu und Glauben nicht fristgerecht angefochten hätten, der Grundsatz gelte, dass die Bescheide weiterhin wirksam seien. Es bestehe ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass eine unanfechtbare Verwaltungsentscheidung bestehen bleibe, wenn die Vorschrift, auf der sie beruhe, oder deren bisherigen Anwendung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung mit dem Grundgesetz nicht im Einklang stünden. Durch die Möglichkeit des Abzuges der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge und dem dadurch gegebenen Anspruch auf Kindergeldzahlung sei die Ablehnung der Festsetzung des Kinder...

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