Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung bestandskräftiger Kindergeldfestsetzung und BVerfG-Rechtsprechung zur Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge bei der Grenzbetragsberechnung des § 32 Abs. 4 EStG

 

Leitsatz (redaktionell)

  1. Hat die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung aufgrund der Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen in die Grenzbetragsberechnung bestandskräftig abgelehnt, obwohl im Lichte der später ergangenen Entscheidung des BVerfG materiell-rechtlich die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch erfüllt waren, so steht einer rückwirkenden Änderung dieser unrichtigen Festsetzung die Bindungswirkung des Ablehnungsbescheides entgegen, soweit keine die Bestandskraft durchbrechende Korrekturnorm einschlägig ist.
  2. In der auf der Entscheidung des BVerfG beruhenden nachträglichen Erkenntnis der fehlerhaften Rechtsanwendung liegt weder eine neue Tatsache i.S.d. § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO noch eine Änderung der für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse i.S.d. § 70 Abs. 2 EStG.
  3. § 70 Abs. 4 EStG gestattet nur dann eine Aufhebung der Kindergeldfestsetzung, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag entgegen einer früheren, in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht ergangenen Prognoseentscheidung der Familienkasse über- oder unterschreiten. Daran fehlt es, wenn die Einkommensverhältnisse für ein abgelaufenes Kalenderjahr vollumfänglich bekannt waren und daher keine. Prognoseentscheidung zu treffen war.
  4. Da vor Ablauf des Kalenderjahres die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge zwangsläufig nicht feststeht, kann für das Jahr des Ergehens des Ablehnungsbescheides auch eine aufgrund eines Beschlusses des BVerfG geänderte Rechtsauffassung durch Korrektur nach § 70 Abs.4 EStG berücksichtigt werden.
  5. Ein Irrtum über die Verfassungsmäßigkeit eines Steuergesetzes kann eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist grundsätzlich nicht rechtfertigen.
  6. Der für die verspätete Einspruchseinlegung ursächliche Rechtsirrtum ist auch nicht deshalb entschuldbar, weil die Familienkasse es pflichtwidrig unterlassen hätte, den Stpfl. auf verfassungsrechtliche Bedenken und eine anhängige Verfassungsbeschwerde hinzuweisen.
 

Normenkette

EStG § 32 Abs. 4 S. 2, § 70; BVerfGG § 79 Abs. 2; AO §§ 89, 110, 121 Abs. 1, § 126 Abs. 3, §§ 130-131, 172 Abs. 1 Ziff. 2 d, § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; VwVfG § 48

 

Streitjahr(e)

2003, 2004

 

Tatbestand

Der Kläger bezog fortlaufend Kindergeld für seine am 20. Januar 1984 geborene Tochter Angela, die sich in den Jahren 2003 und 2004 in einer Berufsausbildung befand.

Nach der Vorlage der Gehaltsabrechnung der Tochter für das Jahr 2003 hob der Beklagte im Bescheid vom 8. Juni 2004 die Kindergeldfestsetzung rückwirkend ab 1. Januar 2003 gemäß § 70 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf. Zur Begründung führte er aus, es sei nachträglich bekannt geworden, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den für das Jahr 2003 maßgeblichen Grenzbetrag von 7.188 Euro überschreiten.

Am 25. Juni 2005 beantragte der Kläger die Gewährung von Kindergeld für die Jahre 2003 und 2004 und machte geltend, in beiden Jahren lägen die Ausbildungsvergütungen abzüglich der Werbungskostenpauschale und Sozialversicherungsbeiträge mit 6.036 Euro bzw. 6.647 Euro unter den maßgeblichen Einkunftsgrenzen.

Der Beklagte nahm im Bescheid vom 18. August 2005 lediglich eine Kindergeldfestsetzung ab dem 1. Juli 2004 vor und lehnte im Übrigen eine Festsetzung ab. Einem Kindergeldanspruch für die Zeit vor Juli 2004 stehe die Bindungswirkung des Bescheides vom 8. Juni 2004 entgegen.

Gegen den Bescheid legte der Kläger fristgerecht Einspruch ein. Zur Begründung machte er geltend, aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ergebe sich, dass der Bescheid vom 8. Juni 2004 rechtswidrig gewesen sei. Deshalb könne er auch keine Bestandskraft entwickeln. Zudem sei in dem Bescheid nur dass Kindergeld für das Jahr 2003 abgelehnt worden, nicht aber für das Jahr 2004.

In der Einspruchsentscheidung vom 21. September 2005 wies der Beklagte den Einspruch zurück und führte aus: Die Bestandskraft des Bescheides vom 8. Juni 2004 bestehe bis einschließlich des Monats seiner Bekanntgabe, vorliegend also bis Juni 2004. Die Änderung einer bestandskräftigen Kindergeldfestsetzung sei nur möglich, wenn als Rechtsgrundlage eine Korrekturnorm existiere, was hier nicht der Fall sei.

§ 70 Abs. 2 EStG greife nicht, da die Änderung einer Rechtsauffassung, wie sie durch den Beschluss des BVerfG vom 11. Januar 2005 eingetreten sei, keine Änderung in der für die Kindergeldfestsetzung erheblichen Verhältnisse darstelle.

§ 70 Abs. 3 EStG ermögliche nur eine zukünftige Korrektur auf Grund materieller Fehler der letzten Festsetzung.

Gemäß § 70 Abs. 4 EStG sei die Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt werde, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschritten. Vorliegend fehle es an...

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