Entscheidungsstichwort (Thema)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei Rüge einer überlangen Verfahrensdauer

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Rüge einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 GG durch eine überlange Verfahrensdauer von 10 Jahren beim Finanzgericht kann nicht erstmals mit der Verfassungsbeschwerde erhoben wird. § 90 Abs. 2 BVerfGG verlangt, daß der Rechtsweg auch mit all denjenigen Rügen erschöpft wird, welche – soweit sie ergebnislos geblieben sind – zur Überprüfung durch das BVerfG gestellt werden sollen. Sind zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels keine Entscheidungen des BFH zur Frage einer überlangen Verfahrensdauer ergangen, ist der Beschwerdeführer auch unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit gehalten, seine Rüge darauf zu erstrecken.

2. Die Dauer eines Revisionsverfahrens von drei Jahren erscheint nicht offenkundig unangemessen, wenn man berücksichtigt, daß ausweislich des Jahresberichts 1990 des BFH die durchschnittliche Dauer der Verfahren bei Revisionen mit einer Sachentscheidung 38 Monate betrug.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; BVerfGG § 90 Abs. 2

 

Verfahrensgang

BFH (Beschluss vom 23.06.1988; Aktenzeichen IV R 222/85)

Hessisches FG (Urteil vom 07.05.1985; Aktenzeichen VI 181/74)

 

Gründe

1. Soweit der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte im Hinblick auf die über zehn Jahre währende Verfahrensdauer bei dem Finanzgericht geltend macht, steht einer Prüfung in der Sache der Grundsatz der Subsidiarität entgegen, der Ausdruck in der Regelung des § 90 Abs. 2 BVERFGG gefunden hat. Hiernach gilt, daß ein Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muß, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVERFGE 68, 384 ≪388 f.≫; 74, 102 ≪113≫; 81, 97 ≪102≫). Das bedeutet, daß eine Grundrechtsverletzung im Interesse einer ordnungsgemäßen Vorprüfung der Beschwerdepunkte zunächst in dem mit der Beeinträchtigung unmittelbar zusammenhängenden sachnächsten Verfahren geltend gemacht werden muß (vgl. BVERFGE 59, 63 ≪83≫). Der sich aus § 90 Abs. 2 BVERFGG ergebende Grundsatz der Subsidiarität verlangt von dem Beschwerdeführer also nicht nur, daß er den Rechtsweg zu den Fachgerichten überhaupt, sondern auch mit all denjenigen Rügen erschöpft, welche er sodann – soweit sie ergebnislos geblieben sind – zur Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zu stellen gedenkt. Nur auf diese Weise ist es den Fachgerichten möglich, das Bundesverfassungsgericht zu entlasten, indem sie diesen verfassungsrechtlichen Rügen – soweit sie begründet sind – Rechnung tragen oder sich mit ihnen – soweit sie unbegründet sind – inhaltlich auseinandersetzen.

Diesen Anforderungen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht, denn der Beschwerdeführer hat die Rüge der Verfassungswidrigkeit der Verfahrensdauer beim Finanzgericht von über zehn Jahren erstmals in der Verfassungsbeschwerde erhoben. Demgegenüber waren mit der Revision nur Gründe vorgetragen worden, die die Rechtmäßigkeit des Steueranspruchs betrafen und die in keinem Zusammenhang mit der Verfahrensdauer standen. Gründe, die erkennen ließen, warum es dem Beschwerdeführer verwehrt gewesen sein könnte, die Revision auch im Hinblick auf die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit der überlangen Verfahrensdauer zu stützen, sind weder von dem Beschwerdeführer vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Einschlägige, dem Begehren des Beschwerdeführers entgegenstehende Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, die sich mit der Verfassungswidrigkeit einer überlangen Verfahrensdauer unter dem Gesichtspunkt insbesondere des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG mit den daraus abzuleitenden Folgen auseinandersetzen, waren jedenfalls zum Zeitpunkt der Revisionseinlegung nicht ergangen, so daß auch unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit der Beschwerdeführer gehalten war, die Revision auch im Hinblick auf die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit der überlangen Verfahrensdauer einzulegen (vgl. etwa BVERFGE 77, 275 ≪282≫).

2. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die Verfahrensdauer beim Bundesfinanzhof von fast drei Jahren wendet, ist sie gleichfalls unzulässig, denn die Beschwerde ist nicht mit einem Sachvortrag erhoben worden, der mit hinreichender Deutlichkeit zumindest die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsähnlichen Rechten aufzeigt (vgl. BVERFGE 28, 17 ≪19≫; st. Rspr.). Die Dauer des Revisionsverfahrens erscheint nicht offenkundig unangemessen, wenn man berücksichtigt, daß ausweislich des Jahresberichts 1990 des Bundesfinanzhofs (S. 23) die durchschnittliche Dauer der Verfahren bei Revisionen mit einer Sachentscheidung 38 Monate betrug. Da der bloße Verfahrensablauf von drei Jahren einen Grundrechtseingriff für sich genommen nicht zu begründen vermag, hätte der Beschwerdeführer insbesondere Umstände darlegen müssen, die die Angemessenheit der Dauer des Revisionsverfahrens entsprechend der Besonderheiten des Einzelfalles in Frage stellt (vgl. BVERFGE 55, 349 ≪369≫). Dem Bundesverfassungsgericht obliegt es nicht, hinsichtlich jeder einzelnen Maßnahme die Verfahrenshandhabung des Bundesfinanzhofs nachzuprüfen, ob und inwieweit dieser möglicherweise früher hätte entscheiden können. Dies verbietet sich schon im Hinblick auf den Umstand, daß jedes Gericht jeweils mit einer Vielzahl von Verfahren gleichzeitig befaßt ist und sich hieraus zwangsläufig für das einzelne Verfahren Verzögerungen ergeben, deren Ursachen nicht in diesem Verfahren selbst liegen. Im vorliegenden Revisionsverfahren sind jedenfalls keine erheblichen, von Verfassungs wegen zu beanstandenden Verzögerungen durch Untätigkeit des Bundesfinanzhofs von dem Beschwerdeführer dargelegt worden noch sind solche erkennbar (vgl. Nichtannahmebeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 1981, 2 BvR 348/81, EuGRZ 1982, S. 75, 76).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

NJW 1992, 1498

NVwZ 1992, 767

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