Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 26.04.1973)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen von 26. April 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Unter den Beteiligten ist in Streit, ob der Kläger nach Vollendung des 50. Lebensjahres Anspruch auf Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) für die Zeit vom 1. November 1969 bis zum 30. September 1972 hat.

Der an 22. Oktober 1919 geborene Kläger, gelernter Grubenelektriker, war von 1951 bis Juni 1955 als Elektrosteiger, von Juli 1955 bis Februar 1967 als Erster Elektrosteiger und von März 1967 bis September 1972 wiederum als Elektrosteiger beschäftigt und knappschaftlich versichert. Seitdem ist er nicht mehr berufstätig. Ab 1. Oktober 1972 erhält er von der Beklagten – auf Grund eines im gegenwärtigen Streitverfahren abgegebenen Teilanerkenntnisses – die Bergmannsrente (Ausführungsbescheid der Beklagten vom 13. November 1973).

Den bereits in Juli 1969 gestellten Antrag des Klägers auf Bergmannsrente lehnte die Beklagte im Bescheid vom 22. Dezember 1969, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 6. April 1970, mit der Begründung ab, daß der Kläger 1967 den Wechsel von der Tätigkeit des Ersten Elektrosteigers zum Elektrosteiger nicht aus gesundheitlichen, sondern aus betrieblichen Gründen vollzogen habe; sein Hauptberuf sei daher der des Elektrosteigers, den er aber gegenwärtig noch ausübe.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hatte der Kläger in zweiter Instanz Erfolg. Durch die angefochtene Entscheidung vom 26. April 1963 hat das Landessozialgericht (LSG) das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. November 1969 Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG zu gewähren. In der Begründung heißt es: Hauptberuf des Klägers, der die in Gesetz geforderte Wartezeit erfüllt habe, sei die von 1955 bis 1967 verrichtete Tätigkeit als Erster Elektrosteiger. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe sich der Kläger von diesem Beruf nicht freiwillig gelöst, sondern ihn – auch – aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Die Tätigkeit des Ersten Elektrosteigers sei der Hauerarbeit gleichgestellt. Die tarifvertragliche Gehaltsdifferenz zwischen der Tätigkeit des Ersten Elektrosteigers und des Elektrosteigers betrage seit 1. Januar 1969 ständig erheblich mehr als 10 v.H., so daß der Kläger seit Vollendung des 50. Lebensjahres keine wirtschaftlich gleichwertige Arbeit mehr ausgeübt habe.

Das LSG hat die Revision gegen dieses Urteil zugelassen, und die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie trägt vor: Die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger habe die Tätigkeit des Ersten Elektrosteigers unter Tage aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen, beruhe auf mangelnder Sachaufklärung (Verstoß gegen § 103 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–). Außerdem habe das LSG den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG) verletzt. Da der Kläger am 1. März 1967 – Zeitpunkt des Wechsels der Tätigkeit – und dem Jahr zuvor nicht arbeitsunfähig gewesen sei, hätte das LSG zu den von ihn gezogenen Schlüssen allenfalls dann kommen können, wenn der Kläger zu dieser Zeit wegen seines angeblichen Magenleidens zumindest ärztlich behandelt worden wäre. In dieser Richtung habe das LSG nichts ermittelt. Die schriftlichen Mitteilungen des Hausarztes Dr. L. vom 24. April 1970 und 23. August 1971 seien keine beweiserheblichcn Zeugenaussagen, da sie entgegen § 377 Abs. 3 und 4 der Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 118 Abs. 1 SGG nicht unter eidesstattlicher Versicherung ihrer Richtigkeit abgegeben worden seien. Das Vordergericht hätte daher Dr. L. als sachverständigen Zeugen gemäß §§ 414 ZPO, 117 SGG vor dem vollständig besetzten Senat vernehmen müssen. Wenn sich nicht zweifelsfrei feststellen lasse, daß der Kläger die Arbeit des Ersten Elektrosteigers aus gesundheitlichen Gründen habe aufgeben müssen, müsse dies nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zur Ablehnung des Rentenanspruches führen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 24. März 1972 zurückzuweisen, hilfsweise, das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, die Beklagte überschätze die Tragweite des § 117 SGG. Die umfangreiche schriftliche Auskunft des Dr. L. habe genügt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG erhält Bergmannsrente der Versicherte, der das 50. Lebensjahr vollendet, in Vergleich zu der von ihm bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit keine wirtschaftlich gleichwertigen Arbeiten mehr ausübt und die Wartezeit nach § 49 Ab s. 2 RKG erfüllt hat. Unter den Beteiligten ist streitig, ob die bis 1967 verrichtete Tätigkeit des Klägers als Erster Elektrosteiger oder die – auch nach Vollendung des 50. Lebensjahres bis September 1972 ausgeübte – Tätigkeit als Elektrosteiger dessen „bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit” ist.

Durch die (Änderungs-) Kündigung des Arbeitgebers im. Jahre 1967 hat der Kläger zunächst nur seinen Arbeitsplatz, nicht aber den bis dahin ausgeübten Beruf (Hauptberuf) eines Ersten Elektrosteigers verloren. Freilich hat der Kläger dadurch, daß er die ihn im Zuge der Änderungskündigung angebotene, geringer entlohnte Arbeitsstelle des Elektrosteigers angenommen hat, seinen bisherigen Beruf tatsächlich aufgegeben. Zu entscheiden ist mithin, ob sich der Kläger hierdurch in Sinne der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. z. B. BSGE 2, 183; 15, 213, 214 = SozR Nr. 16 zu § 35 RKG aF) von diesen Beruf in Rechtssinne gelöst hat. Das ist zu verneinen.

Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, daß es keine Lösung von der bisher vorrichteten knappschaftlichen Arbeit darstellt, wenn sich der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen einer anderen Berufstätigkeit zugewandt hat, weil für die durch gesundheitliche Gründe verursachte Berufsaufgabe die Knappschaftsversicherung einzustehen hat. Im vorliegenden Fall haben nach den Feststellungen des LSG betriebliche und gesundheitliche Gründe zu der Aufgabe des bisherigen Hauptberufs des Ersten Elektrosteigers geführt. Zwar ist die Kündigung erfolgt, weil die Zahl der Ersten Elektrosteiger aus betrieblichen Gründen verkleinert werden mußte. Doch ist die Auswahl der zu kündigenden Ersten Vermessungssteiger unter den Gesichtspunkt erfolgt, daß gesundheitlich nicht mehr voll einsatzfähigen Arbeitnehmern gekündigt werden sollte, wobei dem Kläger aus sozialen Gründen die Weiterbeschäftigung als Elektrosteiger angeboten wurde. Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, daß in Fällen dieser Art die bisher verrichtete Tätigkeit weiterhin als Hauptberuf des Versicherten anzusehen ist, wenn die gesundheitlichen Umstände den Berufswechsel wesentlich mitverursacht haben. Im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung gilt nämlich dort, wo es um den ursächlichen Zusammenhang eines Erfolges, mit einem bestimmten Ereignis geht, derselbe rechtliche Kausalbegriff wie in der gesetzlichen Unfallversicherurg und der Kriegsopferversorgung (BSG in SozR Nrn. 5 und 15 zu § 1263 a der Reichsversicherungsordnung –RVO– aF; BSG 10, 173, 174; 16, 26, 29).

Ausgehend hiervon hat das LSG festgestellt, daß gesundheitliche Gründe neben den betrieblichen Gründen wesentlich daran beteiligt waren, daß der Kläger im März 1967 die Tätigkeit des Ersten Elektrosteigers aufgegeben und die geringer entlohnte Arbeit eines Elektrosteigers aufgenommen hat.

Nun hat zwar die Beklagte in bezug auf die entsprechenden Feststellungen des LEG Verfahrensrügen erhoben.

Ihnen braucht der Senat jedoch nicht näher nachzugehen. Denn die Beklagte selbst hat eingeräumt, daß es sich beim Kläger „offenbar um einen Magenkranken” handele, greift also insoweit die Feststellungen des LSG nicht an. War aber der Kläger in seiner Gesundheit bereits deutlich angeschlagen, so mußten diesem seine Aussichten, nach Kündigung seiner Arbeitsstelle in absehbarer Zeit wieder einen Arbeitsplatz als Erster Elektrosteiger zu erhalten, als wesentlich gemindert erscheinen. Es kann vor allem nicht unbeachtet bleiben, daß der Kläger zur Zeit der Änderungskündigung bereits im 48. Lebensjahr stand und die wirtschaftliche Lage im Jahre 1967 im allgemeinen und im besonderer, in Bereich des Bergbaus ungünstig war. Der gesundheitlich angeschlagene Kläger konnte insgesamt nicht erwarten, daß Bemühungen um eine neue Arbeitsstelle als Erster Elektrosteiger erfolgreich sein würden. Der Entschluß des Klägers, sich einer geringer entlohnten Tätigkeit zuzuwenden, war daher von begründeten gesundheitlichen Überlegungen entscheidend mitgeprägt, so daß schon allein hieraus die Annahme des LSG gerechtfertigt ist, daß gesundheitliche Gründe die Aufgabe der Tätigkeit eines Ersten Elektrosteigers wesentlich mitverursacht haben. Eine Lösung im Rechtsinn von der knappschaftlichen Tätigkeit des Ersten Elektrosteigers liegt daher nicht vor.

Letztlich kann ein solches Verfahren trotz Aufnahme einer niedriger entlohnten Arbeit im Ergebnis nicht anders behandelt werden als ein Erster Elektrosteiger, der durch Kündigung des Arbeitgebers seinen Arbeitsplatz verloren und trotz Bemühens keinen entsprechenden neuen Arbeitsplatz gefunden hat. Der Versicherte, der eine drohende Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer dem bisherigen Hauptberuf nicht gleichwertigen Tätigkeit vermeidet, kann nicht schlechter gestellt werden als der arbeitslose Versicherte, der auf Wiedereinstellung in eine Arbeitsstelle seiner bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit beharrt.

Da die Voraussetzungen des Anspruches auf Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG somit erfüllt sind, mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden.

Zugleich war gemäß § 193 SGG zu entscheiden, daß die Beklagte den Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten hat.

 

Unterschriften

Dr. Dapprich, May, Rauscher

 

Fundstellen

BSGE, 14

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