Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum groben Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

Einen als Geschäftsführer einer GmbH tätigen Steuerpflichtigen trifft ausnahmsweise kein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977, wenn er die von seinem steuerlichen Berater gefertigte Einkommensteuererklärung unterschreibt und dabei einen offensichtlichen Fehler in den Angaben über den ihm zugeflossenen Bruttoarbeitslohn deshalb nicht erkennt, weil er zu diesem Zeitpunkt in außergewöhnlichem Maße beruflichen Belastungen ausgesetzt ist.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr zur Einkommensteuer zusammenveranlagt wurden. Der Kläger bezog als . . .manager Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Sein Arbeitgeber bescheinigte ihm auf der Lohnsteuerkarte einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 126211,20 DM. Unter dem Datum 31. Dezember . . . (Streitjahr) richtete der Kläger an seinen steuerlichen Berater, den Prozeßbevollmächtigten, ein Schreiben folgenden Inhalts: ,,Bitte beachten Sie bei der Erstellung meiner Einkommensteuererklärung . . . (Streitjahr), daß ich von der Firma X für das Jahr . . . (Jahr vor dem Streitjahr, Vorjahr) eine Tantieme in Höhe von 35000 DM erhalten habe und diese in . . . (Streitjahr) versteuern muß. Weiterhin bitte ich zu beachten, daß auch die Tantieme für . . . (Streitjahr) in Höhe von 35000 DM bei der Einkommensteuer . . . (Streitjahr) zu versteuern ist." Am . . . (über ein Jahr später) reichten die Kläger ihre von dem Prozeßbevollmächtigten erstellte Einkommensteuererklärung für das Streitjahr beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) ein. Als Bruttoarbeitslohn des Klägers war ein Betrag von 199308 DM angegeben und in einer formlosen Anlage folgendermaßen erläutert:

Bruttoarbeitslohn laut Lohnsteuerkarte 126211,00 DM

Tantieme 1983 35000,00 DM

Tantieme 1984 35000,00 DM

geldwerter Vorteil wegen privater Kfz-Nutzung 3058,67 DM

geldwerter Vorteil wegen Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte 38,72 DM

Summe 199308,39 DM

Das FA setzte die Einkommensteuer für das Streitjahr entsprechend den Angaben des Klägers fest (Einkommensteuerbescheid vom 20. Februar 1986). Als Jahressteuerschuld wurde ein Betrag von 79504 DM ausgewiesen und nach Abzug der einbehaltenen Lohnsteuer in Höhe von 39199DM eine Steuernachzahlung in Höhe von 40305 DM errechnet. Am 24. Februar 1986 sandte der Kläger dem Prozeßbevollmächtigten den Einkommensteuerbescheid ,,zur Kenntnisnahme und Prüfung" mit dem Bemerken zu: ,,Meines Erachtens ist die Nachzahlung in Ordnung."

Mit Schreiben vom 10. Juli 1986 stellten die Kläger, vertreten durch den Prozeßbevollmächtigten, den Antrag, den Einkommensteuerbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern. Hierzu machten sie im wesentlichen geltend: Die Tantieme für das Vorjahr sei fälschlicherweise dem in der Lohnsteuerkarte ausgewiesenen Bruttoarbeitslohn hinzugerechnet worden. Tatsächlich sei die Tantieme bereits in den Lohnsteuerabzug einbezogen worden. Die Tantieme für das Streitjahr sei dem Kläger erst in dem auf das Streitjahr folgenden Jahr (Folgejahr) ausgezahlt worden und sei daher nicht im Streitjahr zu versteuern.

Das FA lehnte den Antrag mit der Begründung ab, den Kläger treffe ein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der die Tantiemen betreffenden Tatsachen. Der Kläger habe grob fahrlässig gehandelt, weil er die Höhe seiner im Streitjahr erzielten Einnahmen nicht überprüft habe. Der Einspruch hatte nur insoweit Erfolg, als das FA in seiner Einspruchsentscheidung in bezug auf die im Folgejahr gezahlte Tantieme für das Streitjahr den Bruttoarbeitslohn entsprechend minderte und insoweit die Steuerfestsetzung gemäß § 174 Abs. 1 AO 1977 änderte. Bezüglich der Tantieme für das Vorjahr hielt das FA an seiner bisherigen Rechtsauffassung fest.

Mit der Klage machten die Kläger im wesentlichen folgendes geltend: Der Kläger habe in den vier Jahren vor dem Streitjahr neben seiner Tätigkeit als . . .manager in der (seinem Vater gehörenden) Firma X in A wegen Erkrankung seines Vaters dessen Aufgaben in der Firma Y in B mehr und mehr übernehmen müssen. Ende des Streitjahres sei damit begonnen worden, die gesamte Firmengruppe X-Y grundlegend umzugestalten. Ab Beginn des Folgejahres habe der Kläger die Geschäftsführung der umgestalteten Unternehmensgruppe übernommen. Dadurch bedingt habe der Kläger unter einer sehr hohen Arbeitsbelastung gestanden. Im Drange der Geschäfte sei ihm der später entdeckte Fehler unterlaufen.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Es führte im wesentlichen aus: Dem Kläger sei es möglich und zumutbar gewesen, mit Hilfe der monatlichen Gehaltsabrechnungen den Bruttoarbeitslohn des Streitjahres einschließlich der Tantieme für das Vorjahr zu ermitteln. Die Auszahlung der Tantieme habe sich aus derGehaltsabrechnung April . . . (Streitjahr) ergeben. In der Gehaltsabrechnung Dezember . . . (Streitjahr) habe er aus dem Jahreslohnkonto seinen Bruttoarbeitslohn (128404,83 DM) ablesen können. Im Hinblick auf seine Vorbildung, u.a. ein Wirtschaftsstudium im Ausland, und auf seine Tätigkeiten als . . .manager und Geschäftsführer sei die Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers als ungewöhnlich und nicht entschuldbar anzusehen. Spätestens bei Zugang des Einkommensteuerbescheides hätte sich dem Kläger in Anbetracht der hohen Nachzahlung die Frage aufdrängen müssen, ob er seine Einnahmen zutreffend erklärt habe. Falls er sich durch seine Arbeitsbelastung nicht in der Lage gesehen haben sollte, seine Einnahmen in zutreffender Höhe zu ermitteln, hätte er sich der Hilfe seines steuerlichen Beraters bedienen können, der die Einkommensteuererklärung ansonsten nach seinen Angaben erstellt habe. Da somit der Kläger selbst grob schuldhaft gehandelt habe, könne offenbleiben, ob dem steuerlichen Berater ein grobes Verschulen anzulasten sei, das der Kläger zu vertreten habe.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Zu Unrecht hat das FG entschieden, die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977 für die von den Klägern beantragte Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides . . . seien nicht gegeben, weil den Kläger selbst ein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden von steuermindernden Tatsachen treffe.

Nach § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.

a) Tatsache im vorgenannten Sinne ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 9. August 1991 IIIR24/87, BFHE 165, 454, BStBl II1992, 65 m.w.N.). Der Umstand, daß die an den Kläger für 1983 gezahlte Tantieme in dem auf der Lohnsteuerkarte 1984 bescheinigten Bruttoarbeitslohn enthalten ist, stellt eine Tatsache i.S. von § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977 dar. Diese Tatsache war dem FA zunächst nicht bekannt, weil der Veranlagungssachbearbeiter aufgrund der Angaben in der Steuererklärung sowie der beigefügten Erläuterung des Bruttoarbeitslohns von der gegenteiligen Annahme ausgegangen ist.

b) Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten (BFH-Urteil vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II1984, 2). Grobe Fahrlässigkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt (ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. BFH-Urteile vom 21. Juli 1989 IIIR 303/84, BFHE 157, 488, BStB1 II1989, 960 m.w.N., sowie in BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65).

Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG dürfen - abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen - von der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen entspricht (BFH-Urteil in BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65). Gemessen an den vorstehenden Grundsätzen hat das FG zu hohe Anforderungen an die zu beachtenden Sorgfaltspflichten gestellt.

aa) Entgegen der Auffassung des FG ist dem Kläger kein Vorwurf daraus zu machen, daß er die Höhe seines Bruttoarbeitslohns nicht selbst rechnerisch ermittelt hat. Der Kläger hatte die Fertigung der Steuererklärung seinem steuerlichen Berater übertragen. Er durfte daher darauf vertrauen, daß der Steuerberater die ihm übergebenen Unterlagen und die ihm gemachten Angaben auf Vollständigkeit und Plausibilität hin überprüft (zur Plausibilitätsprüfung des Steuerberaters bei einer Gewinnermittlung, vgl. BFH-Urteil vom 26.August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109). In diesem Sinne ist auch das Schreiben vom 31. Dezember . . . (Streitjahr) zu verstehen, in dem der Kläger den Prozeßbevollmächtigten bittet zu ,,beachten", daß die beiden Tantiemezahlungen (im Streitjahr) zu versteuern seien.

bb) Der Kläger handelte auch nicht grob schuldhaft, als er die von seinem steuerlichen Berater gefertigte Steuererklärung ohne vorherige Beanstandungen unterschrieb und beim FA einreichte. Nach der Rechtsprechung des BFH kann es einem Steuerpflichtigen nur dann als eigenes grobes Verschulden angelastet werden, die von seinem steuerlichen Berater angefertigte Steuererklärung nicht auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit durchgesehen zu haben, wenn ihm ohne weiteres hätte auffallen müssen, daß steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel nicht berücksichtigt worden sind (Urteil in BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2).

Dies kann im Streitfall nicht angenommen werden. Zwar hätte der Kläger beim Unterschreiben der Steuererklärung erkennen können, daß die Zahlenangaben über den Bruttoarbeitslohn im krassen Mißverhältnis zu den tatsächlich zugeflossenen Einnahmen standen. Die besonderen Umstände des Streitfalles gebieten es jedoch, diese Unachtsamkeit des Klägers lediglich als leicht fahrlässig zu bewerten. Der Kläger befand sich zu der Zeit, als er die Steuererklärung unterschrieb, in einer Ausnahmesituation. Er war, wie auch das FG nicht übersehen hat, durch die neu übernommene Tätigkeit als Geschäftsführer und die mit der Unternehmungsgestaltung verbundenen zusätzlichen Aufgaben in außergewöhnlichem Maße in Anspruch genommen. Dies läßt es verständlich erscheinen, daß er seinen eigenen Geldangelegenheiten nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hat, die unter normalen Umständen von einem Steuerpflichtigen erwartet werden kann. Demgegenüber hält das FG die hohe Arbeitsbelastung des Klägers mit der Begründung für unbeachtlich, der Kläger habe sich seines steuerlichen Beraters bedienen können, damit dieser die Einnahmen in zutreffender Höhe ermittelt. Gerade das hat der Kläger getan, als er den Prozeßbevollmächtigten darum bat, bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung auch die Tantiemezahlungen zu ,,beachten".

cc) Dem Kläger ist ferner nicht als grob schuldhaft vorzuwerfen, daß er es unterließ, die Richtigkeit des Steuerbescheides in Zweifel zu ziehen. Seine Annahme, die hohe Nachzahlung gehe ,,in Ordnung", beruht auf der schon bei Abgabe der Erklärung vorhandenen irrtümlichen Vorstellung, für die Tantieme sei noch keine Lohnsteuer abgezogen worden. Insofern konnte ihm auch die Höhe der Steuernachzahlung plausibel erscheinen.

Der Senat braucht nicht abschließend zu entscheiden, inwieweit einem Geschäftsführer mangelnde Rechtskenntnisse über das Lohnsteuerabzugsverfahren zum Vorwurf gemacht werden können (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 11.Mai 1962 VI 195/60 U, BFHE 75, 206, BStBl III 1962, 342). Denn im Streitfall beruhte die doppelte Erfassung der Tantieme für das Vorjahr nicht auf Rechtsunkenntnis über den vorzunehmenden Lohnsteuerabzug, sondern auf der falschen Annahme des Klägers, eine steuerliche Erfassung im Lohnsteuerabzugsverfahren sei tatsächlich noch nicht erfolgt. Wenn der Kläger nicht einem derartigen Tatsachenirrtum unterlegen wäre, hätte für ihn keine Verlanlassung bestanden, seinen Berater auf die Erfassung der Tantieme gesondert hinzuweisen.

dd) Der Senat sieht sich in seiner Auffassung durch die Erkenntnis bestätigt, daß der Kläger sich dem Regelungszweck des § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977 entsprechend verhalten hat. Durch das Merkmal des groben Verschuldens soll der Steuerpflichtige dazu angehalten werden, zu seinem Verantwortungsbereich gehörende und steuerlich relevante Tatsachen rechtzeitig vorzubringen (BFH-Urteil vom 12. Mai 1989 III R 200/85, BFHE 157, 22, BStBl II 1989, 920 mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Der Kläger hat sich bemüht, bezüglich seiner Einnahmen seinem steuerlichen Berater vollständige Angaben zu machen. Daß diese Angaben dann zu Mißverständnissen geführt haben, sollte ihm daher nicht zum Nachteil gereichen.

2. Das FG hat seiner Rechtsauffassung entsprechend nicht geprüft, ob für das nachträgliche Bekanntwerden der streitigen Tatsache ein grob schuldhaftes Verhalten des Prozeßbevollmächtigten ursächlich war. Das Verschulden eines steuerlichen Beraters, dessen sich der Steuerpflichtige zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, ist dem Steuerpflichtigen bei Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977 zuzurechnen; dabei sind an den Berater erhöhte Anforderungen zu stellen (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und zuletzt BFH-Urteil vom 13. Juni 1989 VIII R 174/85, BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789).

Dem FG-Urteil lassen sich zu der vorstehenden Frage keine tatsächlichen Feststellungen entnehmen. Der Senat kann daher nicht in der Sache selbst entscheiden. Das FG wird somit im zweiten Rechtsgang zu untersuchen haben, inwieweit den Prozeßbevollmächtigten als den steuerlichen Berater des Klägers ein grobes Verschulden daran trifft, daß die lohnsteuerliche Erfassung der Tantieme für das Vorjahr dem FA erst nachträglich bekannt geworden ist.

 

Fundstellen

BFH/NV 1993, 147

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