Leitsatz (amtlich)

1. Der VIII. Senat schließt sich der Rechtsauffassung des IV. Senats im Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80 (BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324) an, daß im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 der Steuerpflichtige ein grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung in gleicher Weise zu vertreten hat wie das Verschulden eines Bevollmächtigten.

2. Ein eigenes grobes Verschulden des Steuerpflichtigen kann darin liegen, daß er die von seinem steuerlichen Berater gefertigte Steuererklärung unterschreibt, obwohl ihm bei der Durchsicht der Steuererklärung ohne weiteres hätte auffallen müssen, daß steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel nicht berücksichtigt worden sind.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Mutter und Sohn. Sie bilden eine Grundstücksgemeinschaft im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches, an der der Kläger mit 75 v. H. und die Klägerin mit 25 v. H. beteiligt sind.

Für das Streitjahr 1977 reichten die Kläger zusammen mit ihren Einkommensteuererklärungen beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) eine Aufstellung über die Einnahmen und Ausgaben ihrer beiden Grundstücke sowie einen amtlichen Vordruck "Anlage ESt 1, 2, 3 B zur gesonderten und einheitlichen Feststellung der Einkünfte für 1977" ein, allerdings ohne den Mantelbogen "ESt 1 B" für die Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung der Einkünfte. Bei der Erstellung dieser Erklärungen hatten sich die Kläger der Mitwirkung eines steuerlichen Beraters bedient.

Aufgrund dieser Unterlagen stellte das FA erklärungsgemäß - abgesehen von der Beseitigung eines Rechenfehlers - mit Feststellungsbescheid vom 4. April 1979 einen Verlust von 3 783 DM fest.

Durch einen neu bestellten steuerlichen Berater beantragten die Kläger mit Schreiben vom 10. Juli 1979, den bestandskräftigen Feststellungsbescheid vom 4. April 1979 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern, da ein Schuldzinsenbetrag in Höhe von 9 464,15 DM nicht berücksichtigt worden sei.

Das FA lehnte den Antrag ab, da das nachträgliche Bekanntwerden der Schuldzinsen auf grober Fahrlässigkeit der Kläger beruhe.

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage, mit der die Kläger u. a. geltend gemacht haben, der Feststellungsbescheid sei nichtig, weil er wegen der fehlenden Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung der Einkünfte "ESt 1 B" sowie ohne Vorliegen der Anlage V und somit ohne Abgabe einer Steuererklärung erlassen worden sei, hat das Finanzgericht (FG) abgewiesen.

Zur Begründung hat es ausgeführt, entgegen der Ansicht der Kläger sei der Feststellungsbescheid wirksam. Es liege weder einer der im Positivkatalog des § 125 Abs. 2 AO 1977 aufgeführten Nichtigkeitsgründe vor, noch leide der Feststellungsbescheid an einem besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehler i. S. des § 125 Abs. 1 AO 1977.

Zu Recht habe das FA es abgelehnt, den bestandskräftig gewordenen Feststellungsbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zugunsten der Kläger zu ändern, da die zu einer niedrigeren Steuer führende Tatsache durch grobes Verschulden der Kläger erst nachträglich bekanntgeworden sei. Von einem Steuerpflichtigen sei nämlich zu verlangen, daß er im Rahmen seiner Möglichkeiten die von dem Steuerberater gefertigten Steuererklärungen auf deren sachliche Richtigkeit überprüfe und das später noch einmal während der Rechtsmittelfrist wiederhole. Das hätten die Kläger offensichtlich nicht getan, sondern die Erklärungen blindlings unterschrieben und die Rechtsmittelfrist ungenutzt verstreichen lassen, obwohl ihnen am ehesten das Fehlen des Betrages von rd. zwei Dritteln der bezahlten Schuldzinsen hätte auffallen müssen, sogar dann, wenn sie, wie sie vorgetragen hätten, den Ansatz der bezahlten Schuldzinsen nur überschlägig geprüft hätten. Bei dieser Rechtslage brauche die umstrittene Frage, ob den Steuerpflichtigen ein Verschulden ihres steuerlichen Beraters zuzurechnen sei, nicht entschieden zu werden.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügen die Kläger Verletzung der §§ 150 und 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977.

Entgegen der Auffassung des FG hätten die Kläger keine Steuererklärung i. S. des § 150 AO 1977 abgegeben. Der Feststellungsbescheid sei wegen dieses Mangels nichtig. Die Kläger treffe auch keine grobe, sondern lediglich leichte Fahrlässigkeit am nachträglichen Bekanntwerden der weiteren Schuldzinsen. Eine Unkenntnis der Kläger in bezug auf die Absetzbarkeit der Schuldzinsen könne nicht ausgeschlossen werden, zumal Schuldzinsen nicht in jedem Fall absetzbar seien.

Die Kläger beantragen sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben und das FA zur Änderung des Feststellungsbescheides 1977 unter Berücksichtigung der nachträglich bekanntgewordenen Schuldzinsen zu verpflichten.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Zutreffend hat das FG angenommen, daß der Feststellungsbescheid für 1977 nicht nichtig ist. Dabei kann dahinstehen, ob die von den Klägern gegenüber dem FA gemachten Angaben als Steuererklärung anzusehen sind, obwohl sie den Erfordernissen des § 150 AO 1977 nicht entsprechen. Denn ob ein Verwaltungsakt nichtig ist, bestimmt sich - abgesehen von den in § 125 Abs. 2 AO 1977 im einzelnen aufgeführten, im Streitfall nicht gegebenen Nichtigkeitsgründen - nach dem Abs. 1 dieser Vorschrift. Danach ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dieser bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Im Streitfall fehlt es jedenfalls an der Offenkundigkeit eines möglichen Fehlers, da aus dem Feststellungsbescheid selbst nicht ersichtlich ist, daß die Form der von den Klägern gemachten Angaben nicht der Vorschrift des § 150 AO 1977 entspricht.

2. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 sind Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden.

a) Dem FA sind nachträglich, nämlich nach Durchführung der einheitlichen und gesonderten Feststellung, Tatsachen - das Vorhandensein weiterer als Werbungskosten zu berücksichtigender Schuldzinsen - bekanntgeworden, die zu einer niedrigeren Steuer führen würden.

b) Die tatsächlichen Feststellungen des FG reichen für die Beurteilung der Frage, ob die Kläger ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Tatsachen oder Beweismittel trifft, nicht aus.

Das Verschulden eines Beteiligten hängt im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 - wie auch sonst im Verwaltungsverfahren - von seinen persönlichen Umständen und Fähigkeiten ab (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Nach dieser Vorschrift hat der Steuerpflichtige nur grobes Verschulden, d. h. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Beteiligte die ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt (BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, mit Rechtsprechungs- und Literaturhinweisen).

c) Ob ein Beteiligter unter den gegebenen Verhältnissen grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können - abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen - in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324).

Das FG hat angenommen, von einem Steuerpflichtigen sei zu verlangen, daß er im Rahmen seiner Möglichkeiten die vom steuerlichen Berater gefertigten Steuererklärungen und die ergangenen Steuerbescheide auf deren sachliche Richtigkeit überprüfen müsse. Daß die Kläger dies offensichtlich nicht getan, sondern die Steuererklärungen blindlings unterschrieben und die Rechtsmittelfrist hätten verstreichen lassen, obwohl ihnen am ehesten das Fehlen des Betrages von rd. zwei Dritteln der gezahlten Schuldzinsen habe auffallen müssen, sei grob fahrlässig gewesen. Diese Ausführungen lassen nicht erkennen, ob das FG die aus dem Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden Sorgfaltspflichten zutreffend erkannt hat. Abgesehen davon, daß nicht feststeht, ob die Kläger überhaupt ihre gegenüber dem FA gemachten Angaben zur gesonderten und einheitlichen Feststellung unterschrieben haben, könnte es einem Steuerpflichtigen nur dann als eigenes grobes Verschulden angelastet werden, die von seinem steuerlichen Berater angefertigte Steuererklärung nicht auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit durchgesehen zu haben, wenn dem Steuerpflichtigen ohne weiteres hätte auffallen müssen, daß steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel vom steuerlichen Berater nicht berücksichtigt worden sind.

Da das FG keine nachprüfbaren tatsächlichen Feststellungen darüber getroffen hat, ob den Klägern bei Durchsicht der von ihnen gegenüber dem FA gemachten Angaben zur gesonderten und einheitlichen Feststellung der Einkünfte das Fehlen weiterer Werbungskosten ohne weiteres hätte auffallen müssen, ist die Vorentscheidung aufzuheben, um dem FG Gelegenheit zu geben, die fehlenden Feststellungen nachzuholen.

3. Sollte das FG im zweiten Rechtsgang zu dem Ergebnis gelangen, daß die Kläger kein eigenes grobes Verschulden trifft, so wird es zu prüfen haben, ob den ehemaligen Berater ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der steuermindernden Tatsachen oder Beweismittel trifft.

Der erkennende Senat schließt sich der Auffassung des IV. Senats in dem Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324 an, daß dem Steuerpflichtigen im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 ein grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung von Steuererklärungen in gleicher Weise wie das Verschulden eines Bevollmächtigten zuzurechnen ist. Auch der mit der Ausarbeitung der Steuererklärung betraute steuerliche Berater muß sich um eine sachgemäße und gewissenhafte Erfüllung der Erklärungspflicht bemühen. Dabei sind an einen steuerlichen Berater, dessen sich der Steuerpflichtige zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, erhöhte Anforderungen hinsichtlich der von ihm zu erwartenden Sorgfalt zu stellen, wie dies auch für einen sachkundigen Verfahrensbevollmächtigten gilt. Insbesondere muß von Angehörigen der steuerberatenden Berufe die Kenntnis und sachgemäße Anwendung der einschlägigen steuerrechtlichen Bestimmungen erwartet werden (BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324).

Diese Rechtsgrundsätze wird das FG zu beachten haben, falls es im zweiten Rechtsgang ein eigenes grobes Verschulden der Kläger verneinen sollte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 74815

BStBl II 1984, 2

BFHE 1984, 8

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