Leitsatz (amtlich)

Die Beschränkung der Steuerfreiheit für blinde Mineralölunternehmer in § 1a der Dritten Verordnung zur Durchführung des Umsatzsteuergesetzes (Mehrwertsteuer) ist rechtsunwirksam.

 

Normenkette

UStG 1967 § 4 Nr. 19a, § 26 Abs. 1; 3. UStDV § 1a

 

Tatbestand

Der Steuerpflichtige (Kläger, Revisionsbeklagte) ist blind. Er vertreibt Kraftstoffe über zahlreiche freie Tankstellen. Die Tankstellenverwalter sind selbständige Agenten. Der Steuerpflichtige beschäftigt lediglich zwei Bürokräfte. Das zuständige HZA hat ihm ein Mineralölsteuerlager bewilligt.

Das FA (Beklagter, Revisionskläger) setzte für die Voranmeldungszeiträume September und Oktober 1970 Umsatzsteuer fest. Es versagte unter Hinweis auf § 1a 3. UStDV Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 19a UStG 1967. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg. Das FG gab der Klage unter Bezugnahme auf die zwischen den gleichen Beteiligten ergangenen Entscheidungen des BFH V R 86/70 vom 4. Februar 1971 (BFH 101, 562, BStBl II 1971, 430) und V B 4/71 vom 18. März 1971 (BFH 102, 162) statt.

Das FA wendet sich mit der Revision insbesondere gegen das BFH-Urteil V R 86/70 (a. a. O.). Es hat eine Stellungnahme des BMWF vom 25. November 1971 vorgelegt und sich zu eigen gemacht, in der ebenfalls Bedenken gegen das BFH-Urteil V R 86/70 (a. a. O.) zum Ausdruck gebracht werden und im wesentlichen folgendes ausgeführt wird: Der Gesetzgeber habe in § 15 Abs. 2 UStG 1967 die Inanspruchnahme der Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 19a UStG 1967 mit dem Ausschluß des Vorsteuerabzugs verbunden und damit "den für die Blinden durch die Steuerbefreiung entstehenden Vorteil deutlich begrenzt". Die Steuerbefreiung habe auf die "eigene" Wertschöpfung der Blinden beschränkt werden sollen. Der Gesetzgeber habe wohl gesehen, daß die Wertschöpfung verhältnismäßig groß sein könne. Er sei aber immer von der "eigenen echten Wertschöpfung", der "durch die unternehmerische Tätigkeit bewirkten Wertsteigerung", ausgegangen. Die "rein formelle, unechte Wertschöpfung" ("künstlich hohe Wertschöpfung") als Folge der Unterhaltung eines Mineralölsteuerlagers habe er nicht begünstigen wollen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist unbegründet.

Die angegriffenen Bescheide sind auf § 1a der 3. UStDV gestützt, der mit Wirkung vom 11. Juli 1970 zu § 4 Nr. 19a UStG 1967 erlassen worden ist (vgl. Verordnung zur Änderung der 3. UStDV vom 6. Juli 1970, BGBl I 1970, 1022, BStBl I 1970, 817). Nach § 4 Nr. 19a UStG 1967 sind steuerfrei die Umsätze der Blinden, die nicht mehr als zwei Arbeitnehmer beschäftigen. Gemäß § 1a der 3. UStDV wird die Steuerfreiheit jedoch nicht gewährt für die Lieferungen von Erzeugnissen, die der Mineralölsteuer unterliegen, wenn der Unternehmer für diese Erzeugnisse Mineralölsteuer zu entrichten hat. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift treffen auf den Steuerpflichtigen zu. Die von ihm gelieferten Kraftstoffe unterliegen der Mineralölsteuer. Gemäß § 36 Abs. 8 Nr. 1 MinöStDV ist er Schuldner der zwecks Lieferung aus dem Mineralölsteuerlager entnommenen Kraftstoffe. Dennoch kann ihm die Steuerfreiheit nicht versagt werden; denn die Vorschrift des § 1a der 3. UStDV ist rechtsunwirksam, weil sie sich nicht im Rahmen der Ermächtigungsnorm hält.

In dem Vorspruch zu der o. a. Änderungsverordnung wird § 26 Abs. 1 UStG 1967 als Ermächtigungsgrundlage genannt. Nach dieser Vorschrift kann die Bundesregierung zur Wahrung der Gleichmäßigkeit bei der Besteuerung, zur Beseitigung von Unbilligkeiten in Härtefällen oder zur Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens den Umfang der im UStG 1967 enthaltenen Steuerbefreiungen durch Rechtsverordnung näher bestimmen. Eine ähnliche Vorschrift war bereits im UStG 1951 enthalten. Nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 (später § 28 Abs. 1 Nr. 2) UStG 1951 war die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung über den Umfang der Befreiungen Bestimmungen zu treffen. Zu dieser Ermächtigungsnorm hat das BVerfG ausgeführt, sie gebe, verfassungskonform ausgelegt, dem Verordnungsgeber nur "die Befugnis, die Befreiungs- und Ermäßigungsvorschriften, die sich bereits im Umsatzsteuergesetz befinden, zu konkretisieren"; der Verordnungsgeber finde "seine Schranken in der gesetzlichen Regelung der Befreiungen und Ermäßigungen"; Befreiungen und Ermäßigungen, die sich nicht aus dem Gesetz ergäben, könne der Verordnungsgeber nicht einführen (Beschluß 2 BvL 21/56 vom 11. Februar 1958, BVerfGE 7, 267, BStBl I 1958, 83). Der Senat folgt diesen Ausführungen. Ebensowenig wie aber der Verordnungsgeber zur Erweiterung einer bestehenden Befreiungsvorschrift befugt war, war er auch nicht zur Einschränkung einer solchen berechtigt.

Dieselben Grundsätze müssen für die Anwendung des § 26 Abs. 1 UStG 1967 gelten, in den die o. a. Rechtsprechung des BVerfG eingearbeitet worden ist. § 26 Abs. 1 UStG 1967 nimmt - anders als § 18 Abs. 1 Nr. 2 UStG 1951 - ausdrücklich Bezug auf die im "Gesetz enthaltenen Steuerbefreiungen". Die Verwendung des Wortes "näher" stellt klar, daß entsprechend der Rechtsprechung des BVerfG lediglich verdeutlichende Rechtsverordnungen gedeckt werden sollen. Überdies ist dem Erfordernis der Bestimmtheit dadurch Rechnung getragen, daß nur die ausdrücklich in der Vorschrift genannten Zwecke (zur Wahrung der Gleichmäßigkeit bei der Besteuerung usw.) den Erlaß einer Durchführungsverordnung rechtfertigen.

Es kann dem BMWF und dem FA darin gefolgt werden, daß § 1a der 3. UStDV zur Wahrung der Gleichmäßigkeit bei der Besteuerung ergangen ist. In der Regierungsbegründung anläßlich ihrer Einführung ist überzeugend dargelegt, daß die Einschaltung blinder Unternehmer im Mineralölhandel zu Wettbewerbsstörungen geführt hat (Bundesratsdrucksache 340/70).

Entgegen der Aufassung von BMWF und FA schränkt jedoch § 1a der 3. UStDV die dem Steuerpflichtigen nach § 4 Nr. 19a UStG 1967 zustehende Steuerfreiheit ein. Der Senat hat in dem Urteil V R 86/70 (a. a. O.) ausgesprochen, daß die Mineralölumsätze eines blinden Tankstellenunternehmers, der nicht mehr als zwei Arbeitnehmer beschäftigt, auch dann steuerfrei sind, wenn er ein Mineralölsteuerlager unterhält. Hiervon ausgehend, enthält § 1a der 3. UStDV eine Abänderung des § 4 Nr. 19a UStG 1967 (vgl. schon BFH-Beschluß V B 4/71, a. a. O.).

Wird entsprechend den Ausführungen des BMWF und des FA § 15 Abs. 2 UStG 1967 in die Betrachtung einbezogen, ist nicht ersichtlich, inwiefern dessen Wortsinn, von dem jede Auslegung auszugehen hat (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. S. 301 ff.), als Einschränkung des § 4 Nr. 19a UStG 1967 verstanden werden könnte. Aber auch eine Auslegung des § 4 Nr. 19a UStG 1967 gegen seinen Wortlaut läßt sich nicht aus § 15 Abs. 2 UStG 1967 herleiten. Sinn und Zweck dieser Vorschrift sprechen für die gegenteilige Auffassung. Zwar ist § 15 Abs. 2 UStG 1967 zu entnehmen, es solle nur die Wertschöpfung steuerfrei gestellt werden. Es kann jedoch nicht zwischen einer "echten" und einer "unechten" Wertschöpfung unterschieden werden. Als Vorteil der Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug ist stets herausgestellt worden, daß sie als eine sog. "subtraktive" Besteuerungsmethode - anders als die "additiven" Methoden - eine Unterscheidung der einzelnen Wertschöpfungselemente überflüssig mache (Zierold-Pritsch, Die Optimale Umsatzsteuer, 1954 S. 31 ff., unter Hinweis darauf, daß andernfalls die Umsatzsteuer zu einer Betriebssteuer werden würde; Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BdF 1960, Schriftenreihe BdF Heft 2 S. 63 f.; Allgemeine Begründung zum Entwurf eines Umsatzsteuergesetzes, Bundestagsdrucksache IV/1590 unter VI 2). Was allgemein für die Umsatzbesteuerung gilt, kann im Rahmen der Steuerbefreiungen nicht anders gesehen werden. Die Zusammensetzung der Wertschöpfung ist ohne Bedeutung. Es ist auch nicht ersichtlich, was im Einzelfall als eine uneigentliche "künstliche" Wertschöpfung betrachtet werden soll. Die Wertschöpfung besteht aus Löhnen, Mieten, Steuern, Zinsen, Gewinnanteilen usw. (vgl. Rau-Dürrwächter, Die Mehrwertsteuer, 6. Aufl., S. 9). Würde die Auffassung der Finanzverwaltung zutreffen, müßte jeder dieser Posten daraufhin untersucht werden, ob er zur "echten" oder "unechten" Wertschöpfung gehört. Bei Gewinnen wäre möglicherweise danach zu unterscheiden, ob sie aus der Arbeit des Unternehmers herrühren (eigentliche Wertschöpfung) oder aus der Ausnutzung einer günstigen Marktlage oder gar aus einer Übervorteilung des Vertragspartners hervorgegangen sind (uneigentliche Wertschöpfung). Derartige Überlegungen sind der Umsatzbesteuerung unangemessen.

Es mag sein, wie weiterhin geltend gemacht wird, daß der Gesetzgeber die wettbewerbsstörenden Auswirkungen des § 4 Nr. 19a UStG 1967 im konkreten Streitfall im einzelnen nicht voll übersehen hat. Während der Gesetzesvorbereitung und -beratung ist jedoch - wie der Senat im Urteil V 86/70 (a. a. O.) ausgeführt hat - vielfach auf die wettbewerbsschädigenden Auswirkungen von Steuerbefreiungen nach der Art des § 4 Nr. 19a UStG 1967 hingewiesen worden. Angesichts der Warnungen kann dem gründlich arbeitenden Gesetzgeber jedenfalls im Grundsätzlichen nicht verborgen geblieben sein, daß er mit § 4 Nr. 19a UStG 1967 eine Steuerbefreiung fortführte, die zwar im Rahmen des UStG 1951 sozial gewesen sein mochte, die aber im Rahmen des UStG 1967 zu einer kommerziellen Ausnutzung geradezu herausforderte. Zutreffend weist der BMWF darauf hin, daß die speziellen Verbrauchsteuern - so auch die Mineralölsteuer - nach eingehenden Überlegungen des Gesetzgebers in die Bemessungsgrundlage des Entgelts einbezogen worden sind (Bundestagsdrucksache IV/1590, Allgemeines VI 6, Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags zu Bundestagsdrucksache V/1581 Allgemeines 4h). Daraus kann jedoch nicht hergeleitet werden, der Gesetzgeber habe eine Versteuerung des Mineralölsteueranteils beim Lieferanten des blinden Mineralölunternehmers unterstellt. Die Möglichkeiten einer Verlagerung der Verbrauchsteuerschuld in die Handelsphäre waren bereits bei der Gesetzesverabschiedung deutlich erkennbar. Sie ergaben sich hinsichtlich der Mineralölsteuer aus § 9 MinöStG (Mineralölsteuerlager), hinsichtlich der Branntweinmonopolabgabe u. a. aus der Rechtsprechung zu § 2 Abs. 2, § 7 Abs. 3 UStG 1951 (vgl. z. B. BFH-Urteil V 245/61 S vom 19. November 1964, BFH 81, 506, BStBl III 1965, 182).

Danach hat das FG die angegriffenen Bescheide zu Recht aufgehoben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 413230

BStBl II 1972, 658

BFHE 1972, 428

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