Leitsatz (amtlich)

Ob und in welchem Umfang einem Körperbehinderten die Kraftfahrzeugsteuer gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG erlassen werden kann, durfte im Jahre 1975 in Baden-Württemberg die Finanzverwaltungsbehörde gemäß der hierzu ergangenen Richtlinie des Baden-Württembergischen Finanzministeriums vom 30. Mai 1975 S 6114 A-3/74 beurteilen.

 

Normenkette

KraftStG 1972 § 3 Abs. 1 Nr. 2; FGO § 102; StAnpG § 2; AO 1977 § 5

 

Tatbestand

Der 1921 geborene Kläger ist infolge einer Lähmung seines rechten Beines geh- und stehbehindert. Seine Erwerbsfähigkeit ist um 70 v. H. gemindert. Im Jahre 1973 hatte er das Halten eines Personenkraftfahrzeugs (1 570 ccm Hubraum) zum Verkehr auf öffentlichen Straßen angemeldet. Die in der Steueranmeldung vorgedruckte Frage, ob er beabsichtige, "für das ... bezeichnete Fahrzeug Antrag auf Steuerbefreiung oder Steuererlaß zu stellen", hatte er verneint. Das FA hatte durch einen bestandskräftig gewordenen Bescheid die Kraftfahrzeugsteuer auf 118,60 DM bei halbjährlicher Entrichtung festgesetzt.

Im Jahre 1975 beantragte der Kläger unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 15. Januar 1975 II R 152/72 (BFHE 114, 449, BStBl II 1975, 274, HFR 1975, 296, mit Anmerkung), ihm die Kraftfahrzeugsteuer zu erlassen. Das FA lehnte dies durch Verfügung vom 4. Juli 1975 ab unter Hinweis auf die Richtlinie des Baden-Württembergischen Finanzministeriums vom 10. Juni 1975 S 6114 A - 5/74. Diese Richtlinie enthielt unter anderem den Hinweis, "daß sich durch das Gesetz zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts hinsichtlich der pesönlichen Voraussetzungen für die Kraftfahrzeugsteuervergünstigung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG nichts geändert" habe. "Die Höhe des Steuererlasses für Zivilgeschädigte" richte "sich nach wie vor nach dem Grade der MdE und den wirtschaftlichen Verhältnissen des Körperbehinderten".

Die OFD wies die Beschwerde durch Entscheidung vom 8. Oktober 1975 als unbegründet zurück. "Die von den Länderfinanzministern im Anschluß an die Entscheidung des BFH neu gefaßten übereinstimmenden Richtlinien (Erlaß des FinMin BW vom 30. Mai 1975 S 6114 A - 3/74)" trügen "allen vom BFH erhobenen Bedenken Rechnung" und berücksichtigten "alle Erwägungen im Hinblick auf das Gesetz zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts vom 24. April 1974 und das Gesetz über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr vom 27. August 1965". Vor allem seien in dem Bereich einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 v. H. bis 100 v. H. weitere Differenzierungsstufen gebildet worden. Danach sei dem Kläger Kraftfahrzeugsteuer nicht zu erlassen, denn seine Einkommensteuerschuld für das Jahr 1974 übersteige den Betrag, bis zu dem gemäß der erwähnten Richtlinie einem Körperbehinderten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 v. H. ein Viertel der Kraftfahrzeugsteuer zu erlassen ist.

Mit der Klage hat der Kläger beantragt, die Ablehnungsverfügung vom 4. Juli 1975 sowie die Beschwerdeentscheidung vom 8. Oktober 1975 aufzuheben und das FA zu verurteilen, ihn von der Kraftfahrzeugsteuer "zu befreien, hilfsweise ihm diese zu erlassen". Die Verwaltungsrichtlinie, auf die die Beschwerdeentscheidung gestützt sei, werde der Fürsorgepflicht des Staates allen Behinderten gegenüber nicht gerecht. Im übrigen eigne sich das steuerpflichtige Einkommen nicht als objektiver Maßstab für einen Kraftfahrzeugsteuererlaß wegen Körperbehinderung. Denn die einkommensteuerrechtlichen Vergünstigungen (z. B. Sonderabschreibungen, Verlustabzug) ermöglichten es auch einem Körperbehinderten mit Vermögen und "mit relativ hohem Einkommen ... in den Genuß der Kfz-Steuerbefreiung" zu kommen.

Das FG hat die Klage abgewiesen. Es hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des Art. 3 GG. Die unterschiedliche Behandlung von Kriegsbeschädigten (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 KraftStG) und Zivilbeschädigten (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG) sei nicht mehr gerechtfertigt. Der BFH gehe in dem erwähnten Urteil davon aus, daß Zivilbeschädigte unter Umständen einen Rechtsanspruch auf Erlaß der Kraftfahrzeugsteuer haben, der dem Umfang des Anspruchs nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 KraftStG entspricht. Die Fürsorgeansprüche der Zivilbeschädigten seien im Vergleich zu denen der Kriegsbeschädigten vom Finanzgericht unterbewertet worden. Die Verwaltungsrichtlinie trage dem Urteil des BFH nicht ausreichend Rechnung. Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil und die Beschwerdeentscheidung der OFD aufzuheben und das FA zu verurteilen, ihn von der Kraftfahrzeugsteuer freizustellen oder sie ihm zu erlassen.

Das FA beantragt, die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger zu den in Nr. 2 des § 3 Abs. 1 KraftStG genannten Körperbehinderten gehört, also zu den Körperbehinderten, "die nicht unter Nummer 1 fallen", d. h. die nicht Schwerbeschädigte im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes sind und nicht zu den Personen gehören, die den Körperschaden infolge nationalsozialistischer Verfolgungs- oder Unterdrückungsmaßnahmen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erlitten haben. Ihnen kann auf Antrag die Kraftfahrzeugsteuer ganz oder teilweise erlassen werden, wenn sie sich ein Personenkraftfahrzeug halten und "infolge ihrer Körperbehinderung zur Fortbewegung auf die Benutzung eines Personenkraftfahrzeugs nicht nur vorübergehend angewiesen sind"; "dabei sind Art und Schwere der Körperbehinderung sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Körperbehinderten zu berücksichtigen" (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG). Ohne Rechtsirrtum hat das FG die Ablehnungsverfügung des FA in Gestalt der Beschwerdeentscheidung (§ 44 Abs. 2 FGO) als Ermessensentscheidung beurteilt und sie nur daraufhin geprüft, ob sie rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 102 FGO). Fehler dieser Art hat es mit Recht nicht für gegeben erachtet.

FA und OFD haben ihr Ermessen ausgeübt gemäß der Verwaltungsrichtlinie des Baden-Württembergischen Finanzministeriums vom 30. Mai 1975 S 6114 A - 3/74 für die Ausübung des Ermessens beim Erlaß von Kraftfahrzeugsteuer für Körperbehinderte (gleichartige Richtlinien sind in den übrigen Bundesländern ergangen, z. B. für Niedersachsen, Deutsche Verkehrsteuer-Rundschau 1975 S. 152). Diese Richtlinie hält sich in den Grenzen, die das Gesetz (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG) dem Ermessen zieht (§ 2 Abs. 1 des inzwischen außer Kraft getretenen StanpG, vgl. jetzt § 5 AO 1977). Sie berücksichtigt hinreichend Art und Schwere der Körperbehinderung sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Körperbehinderten.

Die insoweit erhobenen Einwendungen des Klägers sind unbegründet. Insbesondere ist dem mehrfach erwähnten Urteil vom 15. Januar 1975 nicht die Ansicht des BFH zu entnehmen, § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG, sei "verfassungskonform" dahin auszulegen, daß den sogenannten Zivilbeschädigten - ebenso wie den "Schwerbeschädigten i. S. des Bundesversorgungsgesetzes" (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 KraftStG) - die Kraftfahrzeugsteuer "in vollem Umfang ohne Rücksicht auf ihre wirtschaftlichen Verhältnisse" zu erlassen sei. Vielmehr hat der BFH dort lediglich ausgesprochen, der Fürsorgegedanke gebiete "bereits jetzt, daß im Wege einer verfassungskonformen Auslegung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG Körperbehinderte mit einer erheblichen Erwerbsminderung stärker begünstigt werden, als das bisher durch die Verwaltung geschehen ist". Diesem Hinweis hat das Baden-Württembergische Finanzministerium dadurch Rechnung getragen, daß es in der angeführten Richtlinie vom 30. Mai 1975 weitere Abstufungen in dem Bereich einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 v. H. bis 100 v. H. gebildet und die Steuerschuldgrenzen erhöht hat. Entgegen der Ansicht des Klägers verletzt es nicht den Gleichheitssatz, daß "Schwerbeschädigten im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes" (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 KraftStG) die Kraftfahrzeugsteuer unter günstigeren Voraussetzungen erlassen wird als anderen Körperbehinderten. Das hat der Senat näher dargelegt in seinem Urteil vom 13. Juli 1977 II R 149/76 (BStBl II 1977, 849). Auf jene Ausführungen wird Bezug genommen.

Den weiteren Einwand des Klägers, die Einkommensteuerschuld oder die Jahreslohnsteuer eigneten sich "nicht als objektiver Maßstab für einen Kfz-Steuererlaß für Körperbehinderte", hat das FG mit zutreffenden Gründen widerlegt. Zwar ist richtig, daß sich "die wirtschaftlichen Verhältnisse des Körperbehinderten" nicht vollkommen in seiner Einkommensteuerschuld oder seiner zuletzt ermittelten Jahreslohnsteuer widerspiegeln. Aber die Anknüpfung an diese verhältnismäßig leicht feststellbaren Merkmale macht die Ermessensausübung nicht fehlerhaft, zumal in Abschn. IV der Richtlinie hervorgehoben ist, daß die in ihr enthaltenen Grundsätze (insbesondere die Tabelle) den Finanzämtern "lediglich als Anhalt dienen" und "deshalb nicht schematisch" angewendet werden dürfen. Dementsprechend hat die OFD auch geprüft, ob beim Kläger nicht ein "besonders begründeter Einzelfall" vorliegt, "der ein Abweichen von den ... Richtlinien rechtfertigen könnte", hat dies aber fehlerfrei verneint.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72483

BStBl II 1977, 851

BFHE 1978, 196

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Gold. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge