Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiederaufnahmeverfahren, unvorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts

 

Leitsatz (NV)

1. Auch ein durch Beschluß rechtskräftig beendetes Verfahren kann wieder aufgenommen werden.

2. Zur schlüssigen Behauptung der unvorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts als Wiederaufnahmegrund.

3. Richtet sich der Antrag auf Wieder aufnahme des Verfahrens gegen einen rechtskräftigen, das Beschwerdeverfahren abschließenden Beschluß, ist über das Wiederaufnahmeverfahren ebenfalls durch Beschluß zu entscheiden.

 

Normenkette

FGO § 90 Abs. 1, §§ 121, 134; GVG § 21g; ZPO §§ 578, 579 Abs. 1 Nr. 1, § 589

 

Tatbestand

Das Finanzgericht (FG) hatte die Klage des Antragstellers auf Feststellung, daß er vorläufig bestellter Steuerbevollmächtigter i. S. des § 40 a des Steuerberatungsgesetzes (StBerG) sei, und auf Verpflichtung der Antragsgegnerin, der Oberfinanzdirektion (OFD), auf Neubescheidung durch Urteil abgewiesen. Die Revision ist nicht zugelassen worden. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Senat durch Beschluß vom 30. August 1994 als unzulässig verworfen. Der Beschluß ist nach Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) ohne Begründung ergangen.

Gegen diesen Beschluß hat der Antragsteller Nichtigkeitsantrag gestellt. Er macht geltend, der Senat sei bei seiner Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 134 der Finanzgerichtsordnung -- FGO -- i. V. m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung -- ZPO --) und führt u. a. aus: Im Zeitpunkt der Entscheidung hätten die schriftlich festgelegten Grundsätze für die Mitwirkung der Senatsmitglieder an Verfahren ab 1. August 1994 i. d. F. vom 1. August 1994 gegolten. Der schriftliche senatsinterne Geschäftsverteilungsplan habe die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit für sich. Es bestehe daher die Vermutung, daß es über die schriftlich niedergelegten Grundsätze hinaus keine Grundsätze über die Bestimmung des Berichterstatters gebe. Nach dem Beschluß der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 5. Mai 1994 VGS 1-4/93 (Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1994, 1735, 1738) gelte § 21 g Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) auch dann, wenn die Auswahl des Berichterstatters zugleich eine Bestimmung bewirke, welcher oder welche Richter an seiner Sache mitzuwirken hätten. Die dem entgegenstehende Praxis müsse zwar nicht nachträglich als rechtswidrig behandelt werden; für die Zukunft sei die Änderung der Rechtsprechung aber zu beachten. Im übrigen seien "Absprachen" zwischen den Senatsmitgliedern keine "Bestimmung" durch den Vorsitzenden i. S. von § 21 g Abs. 2 GVG. Vielmehr entstehe durch den Gebrauch des Wortes "Absprachen" der Eindruck, der Senatsvorsitzende habe sich gegenüber den Beisitzern in einer von § 21 g Abs. 2 GVG nicht gedeckten Weise gebunden. Dieser offensichtliche Gesetzesverstoß beruhe auf Willkür. Es sei nicht Sache des Antragstellers darzulegen, daß die tatsächliche Handhabung willkürlich gewesen sei. Mangels Kenntnis des senatsinternen Geschäftsablaufs könne sich der Antragsteller hierzu nicht äußern. Vielmehr sei es Sache der Plangestaltung, Willkür auszuschließen.

Der Antragsteller beantragt, den Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 30. August 1994 aufzuheben und die Revision des Antragstellers gegen das Urteil des FG zuzulassen.

 

Entscheidungsgründe

Der Antrag hat keinen Erfolg.

1. Der Nichtigkeitsantrag ist statthaft.

Ein rechtskräftig beendetes Verfahren kann gemäß § 134 FGO nach den Vorschriften der §§ 578 ff. ZPO wieder aufgenommen werden. Zwar setzt die Wiederaufnahme nach dem Wortlaut des § 578 ZPO ein rechtskräftiges Endurteil voraus. Nach allgemeiner Ansicht kann jedoch auch ein durch einen Beschluß rechtskräftig beendetes Verfahren wieder aufgenommen werden (BFH-Beschluß vom 29. Januar 1992 VIII K 4/91, BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252 m. w. N.).

2. Der Antrag ist jedoch unzulässig, weil der geltend gemachte Wiederaufnahmegrund nicht ausreichend dargelegt worden ist (§§ 578, 579 Abs. 1 Nr. 1, 589 ZPO i. V. m. § 134 FGO).

Die Wiederaufnahmeklage ist nach allgemeiner Auffassung nur dann zulässig, wenn der Wiederaufnahmegrund schlüssig behauptet worden ist. Dies gilt auch für die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrages (vgl. BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252 m. w. N.). Diese Voraussetzung erfüllt der vorliegende Antrag nicht, weil sich aus ihm nicht schlüssig der geltend gemachte Wiederaufnahmegrund ergibt, daß der Senat bei seiner Entscheidung nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 134 FGO i. V. m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

a) Den Darlegungen des Antragstellers läßt sich schon nicht schlüssig entnehmen, daß die einfach gesetzliche Vorschrift über die Geschäftsverteilung innerhalb des Senats (§ 21 g GVG) verletzt worden ist. Wie der Senat bereits mehrfach ausgeführt hat, werden die Grundsätze der Sachzuständigkeit der einzelnen Senatsmitglieder und damit die Gesichtspunkte, nach denen sie vom Vorsitzenden jeweils zu Berichterstattern bestimmt werden, vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres zwischen dem Senatsvorsitzenden und den übrigen Senatsmitgliedern abgesprochen (vgl. BFH-Urteil vom 2. Juni 1992 VII R 35/90, BFH/NV 1993, 46; Beschlüsse vom 19. Mai 1992 VII S 4, 7 und 8/92, BFH/NV 1993, 301, und vom 19. Mai 1992 VII S 5-6/92, BFH/NV 1993, 302, 303). Die nach dem Geschäftsverteilungsplan des BFH in die Zuständigkeit des VII. Senats fallenden Sachgebiete sind danach so auf die einzelnen Senatsmitglieder aufgeteilt, daß außer dem Vorsitzenden jeweils grundsätzlich ein Senatsmitglied für ein bestimmtes Sachgebiet zuständig ist, daß aber in durch den Geschäftsanfall bedingten Ausnahmefällen ein anderes, durch die Absprache vorherbestimmtes, Senatsmitglied zum Berichterstatter bestellt werden kann. Der Berichterstatter wird außerdem erst bestellt, wenn die Streitsache entscheidungsreif erscheint. Bis zu diesem Zeitpunkt unterliegt die Bearbeitung der Angelegenheit im Regelfall allein dem Vorsitzenden. Ein Mitberichterstatter wird nur in Streitsachen bestimmt, über die -- voraussichtlich -- in der Besetzung mit fünf Richtern zu entscheiden sein wird.

Die schriftliche Festlegung der Grundsätze über die Mitwirkung derjenigen Senatsmitglieder, die nicht Berichterstatter oder Mitberichterstatter sind, vom 1. August 1994 rechtfertigt nicht die Vermutung, daß es daneben keine Regelung über die Bestellung der Berichterstatter und Mitberichterstatter gegeben habe. Die Vermutung der Vollständigkeit der schriftlichen Regelung vom 1. August 1994 kann sich nur auf den geregelten Bereich beziehen. Die schriftliche Regelung vom 1. August 1994 befaßt sich ausdrücklich nur mit der Mitwirkung von Senatsmitgliedern, die nicht Berichterstatter oder Mitberichterstatter sind. Sie schließt nicht aus, daß daneben noch Grundsätze über die Bestimmung von Berichterstattern und Mitberichterstattern bestehen.

Die vor Beginn des Geschäftsjahres nach Absprache des Senatsvorsitzenden mit den übrigen Senatsmitgliedern von diesem festgelegten Grundsätze über die Dezernatsverteilung erfüllt zusammen mit der schriftlichen Regelung vom 1. August 1994 über die Mitwirkung der übrigen Senatsmitglieder jedenfalls die inhaltlichen Anforderungen, die § 21 g Abs. 2 GVG nach der Rechtsprechung der Vereinigten Großen Senate des BGH (in NJW 1994, 1735) an die Grundsätze stellt, die der Senatsvorsitzende vor Beginn des Geschäftsjahres für die Mitwirkung der Senatsmitglieder an Beschlußsachen zu bestimmen hat. Denn nach der dargestellten Regelung wird durch abstrakte Merkmale bestimmt, welcher Richter jeweils im Regelfall Bericht erstatter ist und welche Richter im übrigen an der Entscheidung mitwirken.

Der Umstand, daß der Vorsitzende die Dezernatszuständigkeit in Absprache mit den übrigen Senatsmitgliedern geregelt hat, steht nicht -- wie der Antragsteller meint -- im Widerspruch zu § 21 g Abs. 2 GVG. Zwar sieht diese Vorschrift vor, daß der Vorsitzende die Grundsätze der Mitwirkung bestimmt. Dabei handelt der Senatsvorsitzende zwar in alleiniger Verantwortung. In entsprechender Anwendung von § 21 e Abs. 2, 3 Satz 2, 5 GVG sind zuvor jedoch die betroffenen Senatsmitglieder zu hören. Die vorherige Absprache mit den übrigen Senatsmitgliedern schließt nicht aus, daß der Senatsvorsitzende anschließend die Grundsätze über die interne Geschäftsverteilung der Senatsmitglieder in eigener Verantwortung festlegt.

Die für die Bestimmung des Berichterstatters maßgebenden Kriterien sind allen Senatsmitgliedern bekannt. Sie sind u. a. deswegen bisher nicht schriftlich festgelegt worden, weil sie sich im Gegensatz zu der Regelung über die Mitwirkung der Senatsmitglieder, die nicht Berichterstatter oder Mitberichterstatter sind, aus der Sache ergeben und einfach im Gedächtnis zu behalten sind. Im übrigen beruht diese Art der Mitwirkungsbestimmung auf einer langjährigen Senatspraxis, in die dem Senat jeweils neu zugewiesene Mitglieder hineingewachsen sind. Der BGH hat zwar für Recht befunden, daß auch die Grundsätze über die Bestellung des Berichterstatters schriftlich niederzulegen sind (NJW 1994, 1735). Diese neue Rechtsprechung ist aber nach demselben Beschluß der Vereinigten Großen Senate des BGH erst für das kommende Geschäftsjahr zu beachten. Schon deshalb bestand für den Senat keine Veranlassung, die Grundsätze für die Dezernatsverteilung auf die Senatsmitglieder bereits während des Geschäftsjahrs 1994 schriftlich festzulegen. Auch die Änderung der Grundsätze für die Mitwirkung der übrigen Senatsmitglieder zum 1. August 1994 gab dafür nach der genannten Entscheidung des BGH noch keine Veranlassung.

b) Abgesehen davon würde sich aber auch allein aus dem Umstand, daß die Mitwirkungsgrundsätze für die Senatsmitglieder des VII. Senats nicht vollständig schriftlich niedergelegt worden sind, noch nicht ergeben, daß der Senat bei seiner Entscheidung unvorschriftsmäßig besetzt war und damit ein Wiederaufnahmegrund i. S. des § 134 FGO i. V. m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vorliegt. Nicht jeder Fehler bei der Bestimmung der mitwirkenden Richter führt nämlich zu einer vorschriftswidrigen Besetzung des Gerichts im Sinne der genannten Vorschriften (vgl. BFHE 165, 569, 575 m. w. N.). Für die Beachtlichkeit der Besetzungsrüge nach § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist vielmehr erforderlich, daß die Gesetzesverletzung klar zutage tritt, schwer oder "qualifiziert" ist, also auf einer nicht mehr hinnehmbaren Rechtsansicht und damit auf objektiver Willkür beruht, und daß sich der Verstoß gegen das einfache Gesetz damit zugleich als Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes darstellt (BFHE 165, 569, 575). Das ist vorliegend nicht der Fall.

Wie auch der BGH (NJW 1994, 1735) ausgeführt hat, entsprach es bisher dem § 21 g Abs. 2 GVG, wenn die Mitwirkungsgrundsätze nicht vollständig schriftlich nieder gelegt worden sind. Der Wortlaut der Vorschrift erfordert jedenfalls für die Festlegung der Mitwirkungsgrundsätze nicht die Schriftform (vgl. ebenso BFH-Urteil vom 11. Dezember 1991 II R 49/89, BFHE 165, 492, BStBl II 1992, 260; BFHE 165, 569, 574). Lediglich im Wege der Rechtsfortentwicklung hält es der BGH nunmehr für notwendig, die festgelegten Mitwirkungsgrundsätze (vollständig) schriftlich abzufassen. Schon daraus folgt, daß allein die nicht vollständige schriftliche Abfassung der Mitwirkungsgrundsätze für die Senatsmitglieder kein so schwerwiegender Fehler sein kann, daß er die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 134 FGO i. V. m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO rechtfertigen könnte.

3. Der Senat entscheidet über den Wiederaufnahmeantrag durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung (§ 121 i. V. m. § 90 Abs. 1 Satz 2 FGO). Da sich der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen einen rechtskräftigen, das Beschwerdeverfahren abschließenden Beschluß richtet, ist über den Wiederaufnahmeantrag ebenfalls durch Beschluß zu entscheiden (BFH-Beschluß vom 16. August 1979 I K 2/79, BFHE 128, 349, BStBl II 1979, 710 m. w. N.).

Für die Besetzung des Senats im vorliegenden Verfahren gelten die vorstehenden Ausführungen unter Nr. 2 entsprechend.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420439

BFH/NV 1995, 795

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