Entscheidungsstichwort (Thema)

Lärmbelästigungen während der Aufsichtsarbeiten im Staatsexamen

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Entscheidung darüber, wie im Prüfungsverfahren der Grundsatz der Chancengleichheit zu gewährleisten ist, trifft zwar zunächst die Prüfungsbehörde, sie ist aber der gerichtlichen Nachprüfung nicht entzogen. Vielmehr haben sich die Verfahrensentscheidungen der Prüfungsbehörde bei berufsbezogenen Prüfungen an Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG auszurichten und messen zu lassen. Die in diesen Normen garantierten Grundrechte der Berufsfreiheit und der Chancengleichheit beanspruchen auch Geltung für das Prüfungsverfahren.

2. Dauer und Intensität von Störungen bei Prüfungen (hier: Baulärm) lassen sich nachträglich zweifelsfrei aufklären. Ob durch die Kompensationsmaßnahmen ein „Ausgleich” gelungen ist und die Chancengleichheit der Kandidaten hergestellt wurde, ist eine Frage der rechtlichen Bewertung, die nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG von den Gerichten uneingeschränkt überprüft werden muß.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4, Art. 12 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1

 

Verfahrensgang

BVerwG (Urteil vom 29.08.1990; Aktenzeichen 7 C 9/90)

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Prüfungsentscheidung im Rahmen der Ersten Juristischen Staatsprüfung. Es geht um die Frage, inwieweit Lärmbelästigungen während der Aufsichtsarbeiten zu berücksichtigen sind.

1. a) Die Beschwerdeführerin unterzog sich im September 1988 in Heidelberg als Wiederholerin der Ersten Juristischen Staatsprüfung. In den acht Aufsichtsarbeiten erzielte sie 3; 2; 1,5; 4; 2; 0; 5 und 7 Punkte. Da mit diesen Ergebnissen die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Prüfung nicht erfüllt waren, teilte ihr das Landesjustizprüfungsamt mit Bescheid vom 16. Dezember 1988 mit, daß sie die Erste Juristische Staatsprüfung endgültig nicht bestanden habe.

b) Mit ihrer dagegen gerichteten Klage hat die Beschwerdeführerin geltend gemacht, daß das Prüfungsergebnis auf einem fehlerhaften Prüfungsverfahren beruhe: Während der Aufsichtsarbeiten Nr. 1 bis 6 sei es zu erheblichen Störungen der Kandidaten durch Baulärm gekommen, die durch die gewährten Verlängerungen der Bearbeitungszeiten nicht ausreichend ausgeglichen worden seien. So sei während der Klausur Nr. 2 für eine Störung von 17 Minuten eine Schreibverlängerung von 5 Minuten, während der Klausur Nr. 5 für eine Störung von 27 Minuten eine Schreibverlängerung von 12 Minuten und während der Klausur Nr. 6 für eine Störung von 17 Minuten eine Schreibverlängerung von 5 Minuten gewährt worden. Der Lärm sei in allen Fällen bei der Renovierung einer alten Villa entstanden, die dem Prüfungsraum direkt gegenüber gelegen habe. Zuerst sei das Dach abgedeckt, dann sei Putz abgeklopft und schließlich seien ganze Wände herausgerissen worden. Die Arbeiten seien unter Zuhilfenahme von Preßlufthämmern, Trennschleifern und Bodenverdichtern durchgeführt und ständig durch Zurufe der Arbeiter begleitet worden.

Mit ihrer Berufung gegen das klagabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts hat die Beschwerdeführerin ergänzend vorgetragen, angesichts der andauernden Störungen habe die Beklagte zur Gewährleistung eines ungestörten Prüfungsverlaufes keine Maßnahmen ergriffen. Den Kandidaten hätte ein lärmfreier Prüfungsraum zur Verfügung gestellt werden müssen, als deutlich geworden sei, daß die Lärmquelle nicht zu beseitigen war.

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg verpflichtete das Landesprüfungsamt, der Beschwerdeführerin für die zweite und fünfte Aufsichtsarbeit Ersatzklausuren zu stellen und nach deren Bewertung über das Prüfungsergebnis erneut zu entscheiden. Für die Störungen während dieser Aufsichtsarbeiten habe das Landesprüfungsamt keine ausreichende Schreibverlängerung gewährt, denn nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts sei bei Störungen, während derer – wie im vorliegenden Fall – ein eingeschränktes Arbeiten der Kandidaten noch möglich sei, die Hälfte der Störungszeit als Zeitausgleich zu gewähren (Richtwert 2: 1). Dem habe das Landesprüfungsamt nicht entsprochen und damit die gebotene Chancengleichheit verletzt. Auf dieser Verletzung könne der Prüfungsbescheid zum Nachteil der Beschwerdeführerin beruhen. Dagegen seien die Ausführungen der Beschwerdeführerin über fehlende Bemühungen um andere Prüfungsräume unbeachtlich, denn bei der Auswahl der Kompensationsmaßnahmen habe dem Landesprüfungsamt ein Organisationsermessen zugestanden, das als solches gerichtlich nicht überprüft werden könne.

c) Die Revision der Beschwerdeführerin, mit der sie die Stellung einer weiteren Ersatzklausur erstrebte, hat das Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen, da die Beschwerdeführerin insoweit nicht ihrer Rügepflicht nachgekommen sei. – Auf die Revision des Landesprüfungsamtes hat es das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs, soweit es der Berufung der Beschwerdeführerin stattgegeben hatte, aufgehoben und die Berufung der Beschwerdeführerin in vollem Umfang zurückgewiesen:

Die vom Berufungsgericht entwickelten Regeln zum Ausgleich von Lärmstörungen (Richtwerte) ließen sich nicht aus dem Grundsatz der Chancengleichheit ableiten, sondern verstießen gegen diesen und verletzten darüber hinaus den Grundsatz der Gewaltenteilung, da sie einen Entscheidungsspielraum der Prüfungsbehörde verneinten. – Lärmstörungen während der Prüfung seien zwar geeignet, die Chancengleichheit der Prüflinge zu verletzen; in welcher Weise solche Verletzungen jedoch ausgeglichen würden, müsse bei fehlenden Normen der Entscheidung der Prüfungsbehörde im Einzelfall vorbehalten bleiben. Generelle, abstrakte Regeln mit Allgemeingültigkeitsanspruch dürften nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung vorgeschrieben werden. Solche Regeln seien aus dem Gesetz nicht ableitbar und könnten auch nicht auf Erfahrungssätze gestützt werden.

Gegen das Gewaltenteilungsprinzip habe das Berufungsgericht dadurch verstoßen, daß es unzulässig in die der Prüfungsbehörde vorbehaltenen Befugnisse eingegriffen habe. Da Art und Umfang der Kompensation in der Prüfungsordnung nicht geregelt seien, habe die Prüfungsbehörde hierüber in eigener Zuständigkeit zu entscheiden. Die Entscheidung, wie dem Grundsatz der Chancengleichheit nachträglich möglichst ungeschmälert Geltung verschafft werde, sei primär Sache der Behörde. Wie der vorliegende Fall verdeutliche, sei eine solche Entscheidung durch die Verfassung häufig nur der Richtung nach, nicht dagegen in ihren Einzelheiten vorgegeben; soweit die Verfassung die Behörde nicht binde, sei die Entscheidung allein von ihr zu verantworten. Dieses Einschätzungs- und Entscheidungsvorrecht der Behörde sei vom Gericht zu respektieren. Dem Gericht stehe es daher nicht zu, die Einschätzung der Prüfungsbehörde über die Angemessenheit der zusätzlich gewährten Bearbeitungszeit durch seine eigene Einschätzung zu ersetzen.

Das Einschätzungs- und Entscheidungsvorrecht der Prüfungsbehörde beruhe auf deren Verfahrensherrschaft. Der Prüfungsbehörde stehe bei der Organisation des Prüfungsverfahrens ein Organisationsermessen zu. Der daraus folgende Entscheidungsspielraum erschöpfe sich nicht darin, die Bedingungen und Voraussetzungen für einen ordnungsgemäßen Ablauf des Prüfungsverfahrens zu schaffen. Vielmehr habe die Prüfungsbehörde im Rahmen der geltenden Prüfungsvorschriften das gesamte Verfahren zu leiten und insbesondere darauf zu achten, daß das Verfahren zweckmäßig durchgeführt werde (vgl. ß 10 Satz 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes – VwVfG). Dazu gehöre auch, Störungen nach Möglichkeit zu verhindern, zu beheben oder auszugleichen. Da das genaue Zeitmaß, um das die Frist zur Abgabe einer Prüfungsarbeit wegen einer Lärmstörung hinauszuschieben sei, weder generell noch im jeweiligen Einzelfall aus dem Grundsatz der Chancengleichheit ableitbar sei, verbleibe es hinsichtlich der Neubestimmung des Abgabezeitpunkts bei der Verfahrensherrschaft der Prüfungsbehörde und dem ihr hierdurch eröffneten Entscheidungsspielraum. Nicht anders als bei allen anderen der Verwaltung gewährten Entscheidungsvorrechten erkenne die Rechtsordnung auch in diesem Zusammenhang die innerhalb des Spielraums getroffene Entscheidung als rechtmäßig an und bewerte nur eine Überschreitung seiner Grenzen als rechtswidrig. Das Gericht sei auf die Nachprüfung beschränkt, ob die Prüfungsbehörde bei der Verlängerung der Bearbeitungszeit die ihr gezogenen Grenzen eingehalten habe, insbesondere ob die gewährte Zeitzugabe in Anbetracht ihres Zwecks, den störungsbedingten Zeitverlust auszugleichen, noch als angemessen und vertretbar gelten könne. Sei dies der Fall, habe es die Entscheidung der Prüfungsbehörde, weil diese rechtmäßig sei, hinzunehmen. Wie die Chancengleichheit am besten erreicht werde, entscheide die Prüfungsbehörde außerhalb verfassungsrechtlicher Bindungen aufgrund ihrer Verfahrensherrschaft.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG:

Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt, weil das Bundesverwaltungsgericht die vom Berufungsgericht für erforderlich gehaltene gerichtliche Kontrolle ablehne und darüber hinaus ein offenkundiges Mißverhältnis zwischen der Störung und der dafür gewährten Schreibverlängerungen verneine. Der Grundsatz der Chancengleichheit hätte die Prüfungsbehörde an sich verpflichtet, den Prüfungskandidaten einen lärmfreien Ersatzraum zur Verfügung zu stellen. Art. 3 Abs. 1 GG sei zumindest dadurch verletzt, daß die unter Lärmbelästigung erstellten Klausuren nicht getrennt von den unter störungsfreien Bedingungen geschriebenen Arbeiten korrigiert worden seien.

Art. 20 Abs. 1 GG sei durch die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts verletzt, die Exekutive habe alleine über das „Ob” und das „Wie” eines Ausgleichs von Störungen zu entscheiden. Dies sei mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht vereinbar. Auch das Prinzip der Gewaltenteilung sei verletzt, wenn der Exekutive gestattet werde, über Fragen, die der Gesetzgeber nicht geregelt habe, an dessen Stelle zu entscheiden. Das gelte ebenso für die vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung geforderte – gesetzlich gleichfalls nicht geregelte – Rügeobliegenheit der Kandidaten bei Prüfungen. Soweit das Bundesverwaltungsgericht eine nochmalige Rüge für die Klausur Nr. 6 verlangt habe, werde damit die Grenze der Mitwirkungslast eines Prüflings überschritten und Art. 3 Abs. 1 GG verletzt.

3. Die Verfassungsbeschwerde ist dem Bundesministerium der Justiz und dem Justizministerium des Landes Baden-Württemberg zur Stellungnahme zugestellt worden. Letzteres verteidigt das angegriffene Urteil und hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und auch offensichtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat die dafür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden.

1. Soweit die Beschwerdeführerin beanstandet, daß das Bundesverwaltungsgericht der Exekutive einen gerichtlich nicht nachprüfbaren Entscheidungsfreiraum zugebilligt hat, rügt sie der Sache nach eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG. Diese Grundgesetznorm garantiert nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪401 f.≫; 84, 34 ≪49≫) eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen. Daraus folgt die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen, was eine Bindung an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen im Grundsatz ausschließt (vgl. BVerfGE 15, 275 ≪282≫; 84, 34 ≪49≫; st. Rspr.). Diese verfassungsrechtlichen Garantien hat das Bundesverwaltungsgericht verkannt.

a) Die Entscheidung darüber, wie im Prüfungsverfahren der Grundsatz der Chancengleichheit zu gewährleisten ist, trifft zwar zunächst die Prüfungsbehörde, sie ist aber der gerichtlichen Nachprüfung nicht so weitgehend entzogen, wie das Bundesverwaltungsgericht annimmt. Mit Art. 19 Abs. 4 GG ist insbesondere nicht die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts zu vereinbaren, bei einer Störung der Chancengleichheit in einem Prüfungsverfahren entscheide die Prüfungsbehörde „außerhalb verfassungsrechtlicher Bindungen”, in welcher Weise die Chancengleichheit wiederherzustellen sei. Vielmehr haben sich die Verfahrensentscheidungen der Prüfungsbehörde bei berufsbezogenen Prüfungen an Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG auszurichten und messen zu lassen. Die in diesen Normen garantierten Grundrechte der Berufsfreiheit und der Chancengleichheit beanspruchen auch Geltung für das Prüfungsverfahren (vgl. BVerfGE 52, 380 ≪389 f.≫; 84, 59 ≪72≫).

b) Allerdings entspricht es der ganz herrschenden Auffassung, daß die Gestaltung des Verwaltungsverfahrens im Rahmen der Verfahrensgrundsätze des § 10 VwVfG grundsätzlich dem Ermessen der Behörden überlassen ist. Es erscheint aber zweifelhaft, ob sich die Prüfungsbehörde im vorliegenden Fall noch im Rahmen der ordnungsgemäßen Ermessensausübung bewegt hat, wenn man die schutzwürdigen Interessen der Beschwerdeführerin und die Bedeutung der Prüfung als Berufszugangsschranke berücksichtigt. Zwar dürfte es in der Regel ausreichend und zweckmäßig sein, kurzfristige und unvorhergesehene Lärmbelästigungen der Prüflinge durch Schreibverlängerungen auszugleichen. Wenn jedoch voraussehbar ist, daß eine Lärmquelle das Prüfungsgeschehen häufiger unterbrechen und damit die Prüfungschancen der Kandidaten nachhaltig beeinträchtigen wird, ist die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Prüfungsbehörde in Betracht zu ziehen, ihre verfahrensrechtlichen Möglichkeiten zur vorbeugenden Vermeidung solcher Prüfungsstörungen zu nutzen (vgl. BVerfGE 84, 59 ≪73≫).

Ob das diesbezügliche Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Revisionsbegründung ausreichte und ihre Verfassungsbeschwerde schon allein deshalb Erfolg haben müßte, kann offenbleiben, denn die angegriffene Entscheidung kann aus einem weiteren Grund keinen Bestand haben.

c) Kein Entscheidungsspielraum steht den Prüfungsbehörden bei der Frage zu, welche Kompensationsmaßnahmen zur Wiederherstellung der Chancengleichheit geeignet und geboten sind. Diese Entscheidung ist der gebundenen Verwaltung zuzuordnen. Die Prüflinge haben einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf gleiche Prüfungschancen (Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG). Deshalb haben die Gerichte gemäß Art. 19 Abs. 4 GG zu kontrollieren, ob die organisatorischen Maßnahmen der Prüfungsbehörde ausreichten, um die Chancengleichheit zu erreichen. Gründe, die für eine Einschränkung dieser Kontrollpflicht sprechen könnten, sind nicht ersichtlich. Dauer und Intensität der Störungen lassen sich nachträglich zweifelsfrei aufklären. Ob durch die Kompensationsmaßnahmen ein „Ausgleich” gelungen ist und die Chancengleichheit der Kandidaten hergestellt wurde, ist eine Frage der rechtlichen Bewertung, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von den Gerichten uneingeschränkt überprüft werden muß (BVerfGE 7, 129 ≪154≫; 64, 261 ≪279≫; 84, 34 ≪49 f.≫).

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf ß 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

NJW 1993, 917

NVwZ 1993, 465

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