Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Das Finanzamt kann von dem Erlaß eines nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigten Bescheides absehen, wenn Einwendungen des Steuerpflichtigen, z. B. die nachträgliche Geltendmachung eines Verlustabzugs, dazu führen, daß der ursprüngliche Steuerbetrag unverändert bleibt.

Den Erlaß eines berichtigten Bescheids kann das Finanzamt aber nicht ablehnen, wenn der Steuerpflichtige ein berechtigtes Interesse an dem Erlaß hat, z. B., weil der ursprüngliche Bescheid auf einer Zusammenveranlagung mit dem Ehegatten beruht, nunmehr aber getrennte Veranlagung beantragt wird.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1, §§ 234, 232

 

Tatbestand

Der am 9. August 1957 verstorbene Vater der beschwerdeführenden Ehefrau (Bfin.) hat in den Jahren 1955 und 1957 als alleiniger persönlich haftender Gesellschafter und Aktionär einer KG a. A. Verluste erlitten, die bei den Veranlagungen des Verstorbenen weder ausgeglichen noch abgezogen werden konnten. Die Verluste sind auch bei der Veranlagung der Eheleute für das Jahr 1958 nicht berücksichtigt worden. Ein Antrag auf Abzug ist auch nicht gestellt worden. Das Urteil des Bundesfinanzhofs VI 49/61 S vom 22. Juni 1962 (BStBl 1962 III S. 386, Slg. Bd. 75 S. 328), nach dem ein in der Person des Erblassers entstandener Verlust auch von dem Erben geltend gemacht werden kann, hat damals noch nicht vorgelegen.

Eine Betriebsprüfung im Jahre 1962 ergab für die Jahre 1958 bis 1960 neue Tatsachen, die eine höhere Veranlagung rechtfertigten. Für das Jahr 1958 sah das Finanzamt jedoch von einer Berichtigung ab, weil das Mehr an Einkommen (= 49.030 DM) durch die Verluste des Jahres 1955 (= 73.718 DM) und des Jahres 1957 (= 36.068 DM) aufgezehrt seien. Die Einkommensteuerveranlagungen 1959 und 1960 wurden berichtigt, ohne daß die über jenen Mehrbetrag hinausgehenden Verluste berücksichtigt wurden.

Die Sprungberufungen blieben ohne Erfolg. Mit dem Finanzamt ist das Finanzgericht der Auffassung, daß die Verluste auch insoweit, als sie das Mehreinkommen 1958 übersteigen, verbraucht seien. Nach § 10 d EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes (StändG) vom 18. Juli 1958 (BStBl 1958 I S. 412) könnten, so führte das Finanzgericht aus, die in den fünf vorangegangenen Veranlagungszeiträumen entstandenen Verluste aus Gewerbebetrieb vom Gesamtbetrag der Einkünfte nur abgezogen werden, soweit ein Ausgleich oder Abzug in den vorangegangenen Veranlagungszeiträumen nicht möglich gewesen sei. Ob diese Vorschrift auf vor dem 1. Januar 1958 entstandene Verluste anwendbar sei, könne dahingestellt bleiben; denn jedenfalls habe ein Steuerpflichtiger auch vor dieser lediglich der Klarstellung dienenden Neufassung des § 10 d EStG kein Wahlrecht gehabt, ob und in welcher Höhe er von dem Verlustabzug Gebrauch machen wolle (vgl. insbesondere das zu § 10 d EStG 1955 ergangene Urteil des Bundesfinanzhofs VI 243/60 U vom 17. Februar 1961, BStBl 1961 III S. 232, Slg. Bd. 72 S. 634). Sei der Abzug eines Verlustes in einem vorangegangenen Veranlagungszeitraum unterblieben, so sei der Verlust nach dieser Rechtsprechung verbraucht, soweit er hätte abgezogen werden können. Aus welchen Gründen ein Verlustabzug in einem vorangegangenen Veranlagungszeitraum unterblieben sei, sei demgegenüber unerheblich. So habe der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung IV 250/57 U vom 9. Januar 1958 (BStBl 1958 III S. 134, Slg. Bd. 66 S. 351) ausgeführt, daß es für den Verbrauch keinen Unterschied mache, ob sich der Steuerpflichtige zur Ausübung eines Wahlrechts habe für berechtigt halten können oder nicht. Im Streitfall hätten die Bf. die Geltendmachung des Verlustabzugs im Jahre 1958 zwar wegen der früheren Rechtsprechung, die eine Berücksichtigung der Verluste bei den Erben nicht zuließ, unterlassen. Das sei jedoch unerheblich. Die Frage, ob der Verlustabzug im Jahre 1958 möglich gewesen sei und ob in der Person des Erblassers entstandene Verluste überhaupt abzugsfähig seien, sei nach der geänderten Rechtsprechung zu beurteilen. Wäre der Einkommensteuerbescheid 1958 nicht rechtskräftig geworden oder aber seine Rechtskraft in vollem Umfang wieder beseitigt worden, so wäre der Verlust bereits bei der Veranlagung 1958 abzuziehen gewesen mit der Folge, daß der ererbte Verlust von 109.786 DM mit dem berichtigten Einkommen des Jahres 1958 in Höhe von 131.783 DM hätte verrechnet werden müssen und für die Streitjahre ohne Auswirkung gewesen wäre. Zwar scheitere die Berücksichtigung der Verluste in Höhe des Teilbetrages von 60.756 DM daran, daß die Rechtskraft des Einkommensteuerbescheides für 1958 nicht in vollem Umfange durchbrochen worden sei. Das sei aber unerheblich, weil es sich bei der Möglichkeit eines Verlustabzuges im Sinne des § 10 d EStG 1958 um eine materiellrechtliche und nicht um eine verfahrensrechtliche Frage handele. Da die Bf. sich darauf verlassen hätten, daß in der Person des Erblassers entstandene Verluste schlechthin nicht abzugsfähig seien, seien sie in ihrem Vertrauen weder durch das Urteil des Bundesfinanzhofs VI 49/61 S (a. a. O.) noch durch die vorliegende Entscheidung beeinträchtigt. Die Bf. könnten zwar, da der Einkommensteuerbescheid 1958 rechtskräftig sei, im Gegensatz zu Steuerpflichtigen, deren Veranlagungen für vorangegangene Jahre bei dem Bekanntwerden des Urteils des Bundesfinanzhofs VI 49/61 S (a. a. O.) noch nicht rechtskräftig gewesen seien, nicht mehr in den Genuß des vollen Verlustabzuges kommen. Das stelle eine gewisse Härte dar, sei aber eine ungünstige Auswirkung der Rechtskraft, die das Gesetz im Interesse der Rechtssicherheit bewußt in Kauf nehme. Selbst dann, wenn das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit einer Norm des Steuerrechts ausspreche, blieben die auf der nichtigen Norm beruhenden unanfechtbar gewordenen Steuerbescheide bestehen, es sei denn, daß ihre Rechtskraft aus anderen Gründen beseitigt werde. Die Bf. könnten für 1958 auch eine getrennte Veranlagung nicht mehr beantragen, weil der Einkommensteuerbescheid 1958 rechtskräftig sei. Die Höhe des Verlustabzuges sei zwar grundsätzlich bei jeder Veranlagung selbständig zu prüfen. Das gelte jedoch, wie der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung VI 67/60 U vom 17. März 1961 (BStBl 1961 III S. 427, Slg. Bd. 73 S. 441) ausgeführt habe, nur für den Normalfall, bei dem die Feststellung der Höhe des auszugleichenden Verlustes im Jahr der Entstehung und die Höhe des abzuziehenden Verlustes in einem Folgejahr einen unselbständigen Teil des für das Jahr ergangenen Steuerbescheides bilde. Die Entscheidung darüber, ob Steuerpflichtige zusammen oder getrennt zu veranlagen seien, sei zwar auch für das Ergebnis des zu veranlagenden Jahres von Bedeutung, sei jedoch, da sie über die Ermittlung der festzusetzenden Steuer hinauswirke (z. B. gemäß § 7 Abs. 2 StAnpG hinsichtlich der Haftung für die festgesetzte Steuerschuld), nichts als ein nur selbständiger Teil des darauf gestützten Steuerbescheides. An eine derartige Entscheidung seien die Finanzbehörden somit auch bei der Ermittlung des abzuziehenden Verlustes in einem Folgejahr gebunden.

Mit ihrer Rb. rügen die beschwerdeführenden Eheleute unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts. Nach ihrer Ansicht hätte ihrem Hilfsantrag, für das Jahr 1958 eine getrennte Veranlagung vorzunehmen und so wenigstens noch einen Teil des Verlustes bei der Veranlagung 1959 zu berücksichtigen, stattgegeben werden müssen. Bei getrennter Veranlagung wären die Verluste nur in Höhe von 82.102 DM verbraucht worden, so daß noch 27.666 DM bei der Veranlagung 1959 hätten berücksichtigt werden müssen. Wenn das Finanzamt von der Berichtigung der Veranlagung 1958 abgesehen habe, so sei das nur eine Zweckmäßigkeitsentscheidung. Es sei zuzugeben, daß der einmal festgesetzte Einkommensteuerbetrag wegen der Sperrvorschrift des § 234 AO nicht unterschritten werden dürfe. Das ändere jedoch nichts daran, daß die Voraussetzungen für eine Berichtigungsveranlagung vorgelegen hätten und daß diese hätte durchgeführt werden müssen. Eine Mehrsteuer hätte sich dabei zwar nicht ergeben. Die Veranlagung wäre aber für sie insofern wichtig gewesen, als sie ihrem Antrag entsprechend hätten getrennt veranlagt werden müssen. Wäre dies geschehen, dann wäre bei der Ehefrau nur ein Einkommen von 82.102 DM anzusetzen gewesen, so daß der Verlust auch nur in dieser Höhe verbraucht worden wäre.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

Dem Finanzgericht ist zwar darin beizutreten, daß für die Frage des Verbrauchs des geltend gemachten Verlustes auch das Jahr 1958 zu berücksichtigen ist. Dem Finanzgericht ist aber nicht auch darin zu folgen, daß bei der Prüfung des Verbrauchs die Zusammenveranlagung, wie sie nun durchgeführt worden ist, zugrunde gelegt werden müsse.

Nach § 10 d EStG setzt der Abzug eines in den Vorjahren erlittenen Verlustes, wie das Finanzgericht zutreffend darlegt, voraus, daß der Verlust nicht schon bei der Veranlagung dieser Jahre abgezogen werden konnte. Daß die Verluste nicht in der Person der beschwerdeführenden Ehefrau, sondern in der ihres verstorbenen Vaters entstanden sind, steht dem Verlustabzug nicht entgegen, wie der Senat in dem Grundsatzurteil VI 49/61 S (a. a. O.) ausgeführt hat.

Danach kommt es, wie auch das Finanzgericht annimmt, darauf an, ob die Bf. den Verlust bereits bei der Veranlagung 1958 hätten geltend machen können. Diese Frage ist aus den vom Finanzgericht dargelegten Gründen zu bejahen. Es mag sein, daß die Bf. die rechtzeitige Geltendmachung des Verlustes nur um deswillen unterlassen haben, weil sie nach dem Stand der damaligen Rechtsprechung davon ausgingen, daß der in der Person des Erblassers entstandene Verlust nicht von der Bfin. als Erbin geltend gemacht werden könne. Wie das Finanzgericht ausführt, ist jedoch der Verbrauch des Verlustes nur davon abhängig, ob der Verlust bei der Veranlagung 1958 hätte abgezogen werden können. Aus welchen Gründen die Bf. den Verlust nicht geltend gemacht haben, ob insbesondere die Nichtgeltendmachung auf ein Verschulden zurückzuführen ist, hat die Frage des Verbrauchs keine Bedeutung. Ist die ohne Berücksichtigung des Verlustes durchgeführte Veranlagung nicht mehr anfechtbar und sonst änderbar, so ist die Nachholung des Verlustabzugs ausgeschlossen. Der der Rechtssicherheit dienende Grundsatz, daß Verfügungen nur innerhalb bestimmter Fristen angefochten und nur unter bestimmten Voraussetzungen geändert werden können, wirkt sich nicht nur zugunsten, sondern auch zuungunsten der Steuerpflichtigen aus.

Im Streitfall hatten sich allerdings neue Tatsachen ergeben, die eine Berichtigung der Veranlagung 1958 rechtfertigten. Wenn das Finanzamt von der Berichtigung absah, weil das auf den neuen Tatsachen beruhende Mehrergebnis sich wegen der Geltendmachung der Verluste nicht in einer Steuererhöhung auswirkte, so entspricht das dem § 234 AO, der in ständiger Rechtsprechung dahin ausgelegt wird, daß die Berichtigung einer unanfechtbaren Veranlagung nicht zu einer Unterschreitung des festgesetzten Steuerbetrages führen kann, wenn nur Tatsachen zuungunsten des Steuerpflichtigen bekannt werden. Auf der anderen Seite führt aber das Bekanntwerden neuer Tatsachen zur Wiederaufrollung des Steuerfalles, so daß bei der Berichtigung nicht bloß, wie es im Streitfall geschehen ist, der Antrag auf Verlustabzug, sondern auch der Antrag auf Vornahme einer getrennten Veranlagung zu berücksichtigen ist. Das Bekanntwerden neuer Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO gibt die Grundlage für eine Wiederaufrollung des ursprünglichen, nicht mehr anfechtbaren Veranlagungsbescheids. Im Rahmen dieser Wiederaufrollung kann der Steuerpflichtige, wie auch das Finanzgericht nicht verkennt, alles geltend machen, was er bei der ursprünglichen Veranlagung hätte geltend machen können. Er kann dabei bestenfalls allerdings nur erreichen, daß es bei dem ursprünglich festgesetzten Steuerbetrag verbleibt. Unter diesen Umständen hat in solchen Fällen in aller Regel weder der Steuerpflichtige noch das Finanzamt ein Interesse an der Berichtigung des ursprünglichen Bescheids. Die Erteilung eines berichtigten Bescheids ist aber, auch wenn der Steuerbetrag unverändert bleibt, nicht etwa unzulässig (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs I 286/62 U vom 7. Oktober 1964, BStBl 1965 III S. 103, Slg. Bd. 81 S. 286). Wie der Streitfall zeigt, kann die Tatsache, daß eine Wiederaufrollung möglich ist, für den Steuerpflichtigen auch bedeutsam sein, wenn er die Unterschreitung des ursprünglichen Steuerbetrages nicht erreichen kann. Daß die neuen Tatsachen lediglich eine Berichtigung zuungunsten der Bf. rechtfertigen, schließt den Antrag auf getrennte Veranlagung ebensowenig aus wie den Antrag auf Berücksichtigung des Verlustes. Konnten die Bf. durch den Antrag auf getrennte Veranlagung auch nicht erreichen, daß der für beide Ehegatten ursprünglich festgesetzte Steuerbetrag unterschritten wurde, so hätte eine getrennte Veranlagung doch, wie die Bf. zutreffend ausführen, zu einem Abzug des Verlustes nur bei der Ehefrau geführt, mit der Folge, daß nicht die vollen 109.786 DM verbraucht worden wären.

Dem Vorsteher des Finanzamts ist zuzugeben, daß die Veranlagung 1958 nicht berichtigt worden ist und daß es im Streitfall allein um die Veranlagung 1959 geht. Man könnte daran denken, daß die Bf. die Ablehnung der Berichtigung der Veranlagung 1958 hätten angreifen müssen, um eine getrennte Veranlagung zu erreichen. Auf der anderen Seite wäre aber die Einkommensteuer als solche unverändert geblieben, so daß es fraglich erscheint, ob nicht die Beschwerde erst durch die Ablehnung des Verlustabzuges bei der Veranlagung 1959 gegeben ist. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben; denn weil hier die Berichtigungen der Veranlagungen 1959 und 1960 und die Abstandnahme von der Berichtigung der Veranlagung 1958 im unmittelbaren Zusammenhang stehen, sieht der Senat keine Bedenken, die Frage der getrennten Veranlagung für 1958 in diesem Verfahren zu prüfen und dabei zu unterstellen, daß die getrennte Veranlagung durchgeführt sei, weil sie zulässig und nur für das vorliegende Verfahren von Bedeutung ist.

Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Dem Senat erschien es zweckmäßig, die Sache zur Steuerberechnung an das Finanzamt zurückzuverweisen, das nunmehr unter Berücksichtigung der dargelegten Grundsätze die Einkommensteuerveranlagung 1959 im Einspruchswege durchzuführen hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411863

BStBl III 1966, 156

BFHE 1966, 433

BFHE 84, 433

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