Vorrangiger Kindergeldanspruch des im EU-Ausland lebenden Elternteils
Hintergrund
Der Vater (V) ist deutscher Staatsangehöriger. Er lebt und arbeitet im Inland. Seine von ihm geschiedene frühere Ehefrau, die Mutter (M), ist zyprische Staatsangehörige. Sie lebt mit den beiden gemeinsamen minderjährigen Kindern in Zypern. Die Familienkasse hatte V zunächst Kindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen den an M gezahlten zyprischen Familienleistungen und dem deutschen Kindergeld gewährt. Später hob sie diese Kindergeldfestsetzung mit der Begründung auf, die Kinder lebten im Haushalt der M. Das FG gab der dagegen gerichteten Klage des V statt. Es lehnte einen eigenen vorrangigen Kindergeldanspruch der M ab.
Auf die Revision der Familienkasse ordnete der BFH das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des III. Senats des BFH an den EuGH in einem Parallelfall an (Vorlagebeschluss v. 8.5.2014, III R 17/13, BStBl 2015 II S. 329). Einschlägig ist die unionsrechtliche Vereinheitlichung der nationalen Regelungen zur sozialen Sicherheit (Art. 60 der VO Nr. 987/2009; Geltung ab Mai 2010). Der EuGH entschied dazu, dass die Wohnsitzfiktion dazu führen kann, dass der nach nationalem Recht gegebene Kindergeldanspruch auch einer in einem anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Person zustehen kann. Unerheblich ist, ob diese Person einen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat (EuGH-Urteil v. 22.10.2015, C-378/14, EU:C:2015:720, BFH/NV 2015 S. 1789; Rechtssache Trapkowski).
Entscheidung
Nach Ergehen des EuGH-Urteils konnte der BFH über die Revision entscheiden. Der BFH hob das FG-Urteil auf und wies die Klage des V ab. Der Kindergeldanspruch steht nicht V zu. Vielmehr hat M einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld.
Nach der Auffassung des EuGH führt Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dazu, dass die Wohnsituation der im EU-Ausland lebenden Familienangehörigen (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Die Situation der gesamten Familie ist in der Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Vorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten (Wohnsitzfiktion). Zu den "beteiligten Personen" gehört auch der andere Ehegatte, da er berechtigt ist, für seine Kinder Kindergeld zu beanspruchen. Damit ist er als Familienangehöriger anzusehen.
Die Wohnsitzfiktion bedeutet für den Streitfall die Unterstellung, dass M zusammen mit den Kindern in einem Haushalt im Inland lebt. Damit steht der Kindergeldanspruch nicht V, sondern M zu. Denn nach deutschem Recht wird das Kindergeld bei getrennt lebenden Eltern entsprechend dem Obhutsprizip vorrangig an den Elternteil ausgezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Haushaltsaufnahme, § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Im Streitfall lebten die Kinder nicht in einem gemeinsamen Haushalt von M und V, sondern im Haushalt der M. Bei einem gemeinsamen Haushalt können die Eltern untereinander den Berechtigten bestimmen (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG).
Hinweis
Der XI. Senat des BFH schließt sich mit dieser Entscheidung der Rechtsprechung des III. Senats an, der mit seinem Vorlageersuchen an den EuGH in der Sache Trapkowski die Grundentscheidung des EuGH herbeigeführt hat. Der III. Senat hat in 2016 die Vorgaben des EuGH in mehreren Urteilen umgesetzt (Leitentscheidung v. 4.2.2016, III R 17/13, BStBl 2016 II S. 612). Die FG hatten bisher unterschiedlich geurteilt. Überwiegend wurde - wie auch vom FG im Streitfall - vertreten, die Fiktion könne nicht so weit gehen, demjenigen Elternteil das Kindergeld zu zahlen, der nach den nationalen Vorschriften der Kindergeldberechtigte sei, auch wenn er (hier M) nicht den deutschen Rechtsvorschriften unterliege. Die Problematik ist damit geklärt. Die Familienkasse wird nunmehr über einen Kindergeldanspruch der M zu entscheiden haben.
BFH, Urteil v. 13.7.2016, XI R 33/12, veröffentlicht am 5.10.2016
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