Rückwirkung der Rechtsprechung zur Berechnung der zumutbaren Eigenbelastung
Nach dem Urteil des BFH vom 19.1.2017 (VI R 75/14, Haufe Index 10490223, zur Kommentierung) ist jetzt nur noch der Teil des Gesamtbetrags der Einkünfte, der den im Gesetz genannten Stufengrenzbetrag übersteigt, mit dem jeweils höheren Prozentsatz belastet. Danach erfasst z. B. der Prozentsatz für Stufe 3 nur den 51.130 EUR übersteigenden Teilbetrag der Einkünfte.
Bislang gingen demgegenüber Finanzverwaltung und Rechtsprechung davon aus, dass sich die Höhe der zumutbaren Eigenbelastung einheitlich nach dem höheren Prozentsatz richtet, sobald der Gesamtbetrag der Einkünfte eine der in § 33 Abs. 3 Satz 1 EStG genannten Grenzen überschritten hat. Danach war der höhere Prozentsatz auf den Gesamtbetrag aller Einkünfte anzuwenden, mit der Folge, dass sich je nach Einzelfall eine deutlich höhere zumutbare Eigenbelastung ergab.
OFD NRW – Kurzinfo ESt Nr. 13/2017 – aktualisiert am 17.10.2017
Nach dieser Verwaltungsanweisung können Bescheide, die hinsichtlich des Abzugs einer zumutbaren Eigenbelastung vorläufig ergangen sind, aufgrund des BFH Urteils vom 19.1.2017 (a.a.O.) nach § 165 Abs. 2 AO geändert werden. Der Vorläufigkeitsvermerk bezieht sich grundsätzlich zwar nur auf die Berücksichtigung von Krankheits- und Pflegekosten als außergewöhnliche Belastung (agB). Laut OFD NRW kann jedoch davon ausgegangen werden, dass es sich bei den in der Steuererklärung als agB geltend gemachten Aufwendungen überwiegend um Krankheits- und Pflegekosten handelt, so dass eine diesbezügliche Prüfung nicht mehr vorzunehmen ist.
Veranlagungszeiträume ab 2013 - Änderungsanträge grundsätzlich möglich
Nach Aussage der OFD NRW vom 17.10.2017 wird zurzeit geprüft, ob für alle Einkommensteuerbescheide, die hinsichtlich des Abzugs der zumutbaren Eigenbelastung vorläufig ergangen sind und bei denen die Berechnung noch nicht nach der neuen, stufenweisen Berechnungsmethode erfolgt ist, ein maschineller Korrekturlauf erfolgen kann. Ob und wann dies der Fall sein wird, konnte die OFD NRW noch nicht sagen. Wer nicht auf das Ergebnis dieser Prüfung warten will, kann einen entsprechenden Antrag auf Änderung der Steuerbescheide nach § 165 Abs. AO stellen.
Veranlagungszeiträume vor 2013 – Änderungsanträge möglich
Fallgruppe 1: ruhende Einspruchsverfahren
Da die Steuerbescheide vor 2013 in der Regel keinen Vorläufigkeitsvermerk bezüglich der agB enthielten, ist eine Änderung nur möglich, wenn gegen diese Bescheide Einspruch eingelegt, und das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 AO beantragt wurde. In diesen Fällen kann nun beantragt werden, die entsprechenden Steuerbescheide im noch offenen Einspruchsverfahren unter Anwendung der neuen stufenweisen Berechnungsmethode zu ändern. Außerdem sollte wegen der bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der zumutbaren Eigenbelastung anhängigen neuen Verfassungsbeschwerde (siehe unten) darauf verwiesen werden, dass das Einspruchsverfahren weiter nach § 363 Abs. 2 AO ruht.
Fallgruppe 2: Bescheide mit Vorläufigkeitsvermerk
Wurden für die Jahre vor 2013 Änderungsveranlagungen durchgeführt, und in die Änderungsbescheide erstmals ein Vorläufigkeitsvermerk bezüglich der zumutbaren Eigenbelastung aufgenommen, kann eine Änderung nach § 351 Abs. 1 AO nur bis zur Höhe der im ursprünglichen, ohne Vorläufigkeitsvermerk ergangen Steuerbescheide festgesetzten Steuer vorgenommen werden.
Beispiel: Wegen einer Betriebsprüfung wurden im Jahr 2013 die Steuerbescheide für die Jahre 2010 bis 2012 geändert und für jedes Jahr eine Nachzahlung der Einkommensteuer in Höhe von 200 EUR festgesetzt, sowie in die Steuerbescheide der Vorläufigkeitsvermerk aufgenommen. Obwohl die nachträglich geltend gemachten agB nach der neuen Berechnungsmethode zu einer jährlichen Minderung der Einkommensteuer um 280 EUR führen, ist nach § 351 Abs. 1 AO der Änderungsrahmen auf die ursprünglich festgesetzte Steuer begrenzt mit der Folge, dass die Änderungen nach § 165 Abs. 2 AO nur zu eine Minderung der Einkommensteuer um 200 EUR für jedes Jahr führen können.
Zwei neue Verfassungsbeschwerden
Verfassungsbeschwerde 1 (2 BvR 221/17)
Der III. Senat des BFH (Urteil v. 29.9.2016, III R 62/13, Haufe Index 10109655) folgt den Urteilen des VI. Senates vom 2.9.2015 (VI R 32/13, Haufe Index 8805781 und VI R 33/13, Haufe Index 9143053) darin, dass Krankheitskosten als agB um die zumutbare Eigenbelastung zu mindern sind. Er lässt jedoch ausdrücklich offen, ob anderes gilt, wenn Aufwendungen für medizinisch notwendige Leistungen, die sich in dem durch das Sozialhilferecht bestimmten Rahmen halten, aufgrund außergewöhnlicher Umstände (z. B. bei Auslandserkrankungen) vom Krankenversicherer nicht erstattet werden oder wenn durch die Zuzahlungen der Grundfreibetrag unterschritten wird.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Verfassungsbeschwerde eingelegt. Wie bereits in den Verfahren vor dem FG und dem BFH trägt der Kläger weiter vor, dass die Kürzung der Krankheitskosten um die zumutbare Eigenbelastung gegen das aus Art. 3 GG herzuleitende Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verstoße.
Verfassungsbeschwerde 2 (2 BvR 1936/17)
Der VIII. Senat des BFH hat in seinem Urteil vom 25.4.2017 (VIII R 52/13, Haufe Index 10985131) die Auffassung vertreten, dass an der Regelung des § 33 Abs. 3 EStG (zumutbare Eigenbelastung) keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Insbesondere sei der Gesamtbetrag der Einkünfte als Bemessungsgrundlage für die Berechnung der zumutbaren Belastung nicht um Beiträge an eine berufsständische Versorgungseinrichtung zu kürzen, und die Anknüpfung der Bemessungsgrundlage an den Gesamtbetrag der Einkünfte sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zur Begründung verweist der BFH auf die Ausführungen des VI. Senats in den Urteilen vom 2.9.2015 (VI R 32/13 und VI R 33/13), denen er sich voll inhaltlich anschließt.
Gegen dieses Urteil wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt. Nach Ansicht des Klägers überzeugt das Urteil des BFH nicht. Er ist der Ansicht, die Berechnung der zumutbaren Belastung nach § 33 Abs. 3 EStG verstoße im Zusammenwirken mit § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und Abs. 3 Satz 5 EStG gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, da die von angestellten Arbeitnehmern geleisteten Altersvorsorgebeiträge nur als Sonderausgaben abgezogen, während bei Beamten die "fiktiven" Beiträge zur Altersvorsorge von vornherein nicht berücksichtigt würden. Hieraus ergäbe sich bei Beamten ein niedrigerer Gesamtbetrag der Einkünfte und eine entsprechend geringere zumutbare Belastung, was letztlich zu höheren abziehbaren agB führe.
Aufgrund dieser neuen Verfassungsbeschwerden ergehen auch die aktuellen Steuerbescheide bezüglich der zumutbaren Eigenbelastung weiter vorläufig nach § 165 AO. Nach dem das BVerfG die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 180/16 nicht zur Entscheidung angenommen hat bleibt zu hoffen, dass es in den neuen Verfahren zu einer Entscheidung über die Frage der Verfassungsmäßigkeit der zumutbaren Eigenbelastung kommt.
Praxis-Tipp
Obwohl die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerden schwer einzuschätzen sind, sollten Betroffene die Belege über sämtliche agB insbesondere über Krankheitskosten weiter aufbewahren bis das Verfahren abgeschlossen ist und prüfen, ob die künftigen Einkommensteuerbescheide den entsprechenden Vorläufigkeitsvermerk enthalten. Ist dies der Fall, sind Einsprüche insoweit nicht erforderlich.
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ich bin etwas verwundert über die Aussage, dass man den Bescheid nach § 165 Abs. 2 AO ändern lassen kann, wenn man bei der Steuererklärung schlicht vergessen hat die außergewöhnlichen Belastungen geltend zu machen.
Daher die Frage, ob Sie zu dieser Aussage (Veranlagungszeiträume ab 2013 - Fallgruppe 2) auch eine gesetzliche Grundlage nennen können?
Woher entnehmen Sie diese Information, dass der Vorläufigkeitsvermerk soweit auszulegen ist?
Für eine Antwort / Rückmeldung wäre ich dankbar!
Freundliche Grüße,
Stefan Hoffmann
der Autor hatte seine Aussage in dem Praxis-Tipp auf eine Veröffentlichung des IWW Verlages in "SSP Steuern sparen professionell" gestützt (leider dort scheinbar nicht mehr aufrufbar). Der Verlag hatte von Herrn Dr. Jürg Weißgerber, Pressesprecher im BMF auf die Frage, ob nachträglich und erstmals wegen des Vorläufigkeitsvermerks außergewöhnliche Belastungen geltend gemacht werden können, folgende Antwort erhalten:
"Ja, für den Fall, dass der BFH zugunsten der Kläger entscheidet, können Aufwendungen für Krankheit und Pflege bis zur Höhe der zumutbaren Eigenbelastung auch erstmals als außergewöhnliche Belastung geltend gemacht werden. Insoweit ist die Einkommensteuerfestsetzung vorläufig und damit noch nicht bestandskräftig. Der Vorläufigkeitsvermerk umfasst hingegen nicht die Aufwendungen für Krankheit und Pflege, die die zumutbare Eigenbelastung übersteigen. Diese müsste der Steuerpflichtige bereits bei der Abgabe der Steuererklärung (spätestens im Einspruchsverfahren) als außergewöhnliche Belastung geltend machen. Für diesen Teil der Aufwendungen (die die zumutbare Belastung überteigen), greift der Vorläufigkeitsvermerk nicht und der Steuerbescheid ist insoweit grundsätzlich bestandskräftig."
Der BFH hatte zwar zur zumutbaren Belastung nicht zu Gunsten der Kläger entschieden aber dadurch, dass zu diesem immer noch die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 221/17 zur zumutbaren Belastung anhängig war, galt aus seiner Sicht die Aussage von Dr. Weißberger weiter, mit der Folge, dass bisher nicht erklärte Krankheitskosten bis zur Höhe der zumutbaren Belastung geltend gemacht werden konnten.
Inzwischen hat sich dieses Verfahren allerdings erledigt, da es nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Den Beitrag passen wir an dieser Stelle daher sicherheitshalber an.
MFG, Frank Holst, Haufe Online-Redaktion
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