Tz. 23

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Von erheblicher Bedeutung ist die Frage, ob und wie weit die Finanzbehörden an Entscheidungen anderer Behörden (Gerichte) gebunden sind, die auf den Steuertatbestand einwirken, sei es im Ganzen, sei es hinsichtlich einzelner Merkmale. Als Grundsatz ist davon auszugehen, dass die Finanzbehörden, auch wenn das nicht ausdrücklich in einer gesetzlichen Vorschrift bestimmt ist, die Entscheidungen anderer Behörden, soweit sie für die Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes und die Anwendung der Steuergesetze von Bedeutung sind, jedenfalls nicht ignorieren dürfen. Dies bedeutet nicht, dass die Entscheidungen stets anzuerkennen und für die Besteuerung zu übernehmen sind. Die Finanzbehörden müssen anderweitige Entscheidungen aber zumindest würdigen und eine etwa abweichende Beurteilung begründen. Das ist ein Erfordernis jeder geordneten Behördentätigkeit. Mit der behördlichen Autorität ist es auch nicht zu vereinbaren, wenn ein und derselbe Sachverhalt durch verschiedene Behörden unterschiedlich beurteilt wird, zumal dann, wenn die eine Behörde zu dieser Beurteilung oder zur Gestaltung des Sachverhalts funktionell berufen ist, während es sich für die andere Behörde nur um eine Vorfrage oder um einen Sachverhalt handelt, auf den sie die von ihr zu handhabenden gesetzlichen Bestimmungen anzuwenden hat. Insbesondere müssen an den Steuerpflichtigen gerichtete Verwaltungsakte fremder Behörden bei der Anwendung der Steuergesetze beachtet werden.

 

Tz. 24

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Auch Bescheinigungen oder Entscheidungen anderer Behörden, die kein Verwaltungsakt sind, können aber in tatsächlicher, nicht aber in rechtlicher Hinsicht zu beachten sein (sog. Tatbestandswirkung). Gerichtliche und außergerichtliche Vergleiche können Tatbestandswirkung entfalten, soweit sie tatsächlich durchgeführt werden. Die fehlende rechtliche Verbindlichkeit kann sich dahin auswirken, dass die Finanzbehörde zur selbstständigen Entscheidung ermächtigt oder sogar verpflichtet ist, wenn den Umständen nach Grund zu der Annahme besteht, dass die Rechtslage von der die Bescheinigung ausstellenden Behörde unzutreffend beurteilt worden ist. Die abweichende Würdigung einer von einer anderen Behörde getroffenen Entscheidung oder gar das Beiseiteschieben dieser Entscheidung bei Anwendung des Steuergesetzes sollte aber die Ausnahme sein und erfordert die Feststellung, dass diese Entscheidung – ihre Richtigkeit im Übrigen dahingestellt – am Gegenstand oder Zweck des Steuergesetzes entweder vorbeizielt oder die steuergesetzlichen Voraussetzungen außer Betracht lässt. In jedem Falle ist eine Würdigung, bei Abweichung eine Begründung erforderlich. Diese kann z. B. darin liegen, dass die Entscheidung der anderen Behörde eine formale Ordnungsfunktion bezweckt, während es im Rahmen des zur Anwendung stehenden Steuergesetzes auf wirtschaftliche Vorgänge oder Zustände ankommt.

 

Tz. 25

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Davon zu unterscheiden sind Entscheidungen, die aufgrund gesetzlicher Regelungen auch eine Bindungswirkung der Finanzbehörden entfalten. Dabei kann es sich sowohl um steuerrechtliche als auch um außersteuerrechtliche Vorschriften handeln (sog. Feststellungswirkung). Im steuerrechtlichen Bereich entfalten vor allem Feststellungsbescheide (s. § 179ff. AO) bindende Wirkung, Beispiele im außersteuerlichen Bereich sind die Eheschließung, Erteilung einer Baugenehmigung. Bei gerichtlichen Entscheidungen erzeugen Gestaltungsurteile verbindliche Wirkungen (sog. Gestaltungswirkung) auch für die Finanzbehörde (z. B. Ehescheidung, Auflösung einer Gesellschaft, Entmündigung, Adoption, Todeserklärung). Bei anderen Zivilurteilen ist die Bindungswirkung wegen der im Zivilprozess obwaltenden Parteiherrschaft über den Streitgegenstand grundsätzlich zu verneinen. Auch bei Strafurteilen sind die Finanzbehörden an die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen des Strafgerichts nicht gebunden, können diese aber ihrer Würdigung zugrunde legen.

 

Tz. 26

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Abgrenzung, ob behördliche oder gerichtliche Entscheidungen Bindungswirkung entfalten, lässt sich nur im Einzelfall vornehmen. Es spricht Vieles dafür, dass von einer Bindungswirkung dann auszugehen ist, wenn die Entscheidung unmittelbar auf ein Rechtsverhältnis einwirkt, also für die Entstehung einer bestimmten Rechtsposition konstitutiv ist. Hingegen spricht bei nur deklaratorischen Feststellungen mehr gegen eine Bindungswirkung im Besteuerungsverfahren (s. Nachweise bei Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 48 ff.).

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