Tz. 56

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Im Steuerrecht ist der Grundsatz von Treu und Glauben nicht allgemein geregelt. Gleichwohl ist anerkannt, dass der in §§ 242, 157 BGB geregelte Grundsatz von Treu und Glauben, weil auf allgemeinen Rechtsgedanken beruhend, auch im Steuerrecht gilt, und zwar sowohl für den Stpfl. wie für die Finanzbehörde (u. a. BFH v. 05.11.2009, IV R 40/07, BStBl II 2010, 720; BFH v. 23.02.2010, VII R 19/09, BStBl II 2010, 729, jeweils m. w. N.). Er gebietet es innerhalb eines bestehenden Steuerrechtsverhältnisses, dass jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren (nachhaltigen) Verhalten, auf das der andere vertraut und aufgrund dessen er unwiderrufbar disponiert oder Dispositionen unterlassen hat, nicht in Widerspruch setzt (Prinzip des "venire contra factum proprium"; u. a. BFH v. 15.05.2013, VIII R 18/10, BStBl II 2013, 669; BFH v. 19.12.2013, V R 5/12, BFH/NV 2014, 1122 m. w. N.). Er ist allgemeiner Rechtsgrundsatz, er ergänzt das betroffene gesetzte Recht und steht im Rang auf dessen Stufe (Koenig in Koenig, § 4 AO Rz. 25 m. w. N.). Er richtet sich nicht an den Staat als Ganzes, sondern an seine einzelnen Repräsentanten, nicht an die Stpfl. in ihrer Gesamtheit, sondern an den einzelnen Stpfl. (BFH v. 09.08.1989, I R 181/85, BStBl II 1989, 990; Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 132) und seinen Bevollmächtigten (Balmes/Kotyrba, AO-StB 2003, 234).

 

Tz. 57

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Vom Grundsatz von Treu und Glauben ist der aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitete Vertrauensschutzgedanke zu unterscheiden, der Schutz allein für den Bürger gegenüber möglichen staatlichen Eingriffen gewährt und kein konkretes Steuerrechtsverhältnis voraussetzt (Seer in Tipke/Lang, § 21 Rz. 12 f.; auch Spindler, DStR 2001, 725). Übergangsregelungen bei Rechtsprechungsänderungen zuungunsten der Steuerbürger sind Auswirkungen des Vertrauensschutzes (s. Rz. 68).

 

Tz. 58

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der Grundsatz von Treu und Glauben bringt keine Steueransprüche und Steuerschulden zum Entstehen oder zum Erlöschen (s. Rz. 70), er kann allenfalls verhindern, dass eine Forderung oder ein Recht geltend gemacht werden kann (s. Rz. 71). Nach dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung hat das FA in jedem Veranlagungszeitraum die einschlägigen Besteuerungsgrundlagen auch gleichgelagerter Sachverhalte ohne Bindung an frühere Besteuerungsperioden erneut zu prüfen und rechtlich zu würdigen und eine als falsch erkannte Rechtsauffassung zum frühestmöglichen Zeitpunkt aufzugeben (BFH v. 14.10.2009, X R 37/07, BFH/NV 2010, 406 m. w. N.; ausführlich AEAO zu § 85, Nr. 2). Der Grundsatz von Treu und Glauben steht dem nicht entgegen (von Wedelstädt, AO-StB 2013, 219 m. w. N.).

 

Tz. 59

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ein wesentlicher Anwendungsbereich des Grundsatzes von Treu und Glauben ist die Auslegung von finanzbehördlichen Verwaltungsakten. Ob eine als Verwaltungsakt i. S. von § 118 Satz 1 AO zu qualifizierende Regelung vorliegt und welchen Regelungsinhalt ein Verwaltungsakt hat, ist über den bloßen Wortlaut hinaus im Wege der Auslegung zu ermitteln. Die §§ 133, 157 BGB enthalten auch für öffentlich-rechtliche Willensbekundungen geltende Auslegungsregeln. Entscheidend ist danach, wie der Betroffene nach den ihm bekannten Umständen – nach seinem "objektiven Verständnishorizont" – den materiellen Gehalt der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte. Es kommt nicht darauf an, was die Finanzbehörde mit ihrer Erklärung gewollt hat (st. Rspr., z. B. BFH v. 11.07.2006, VIII R 10/05, BStBl II 2007, 96; BFH v. 12.02.2014, II R 46/12, BFH/NV 2014, 979). Der Grundsatz von Treu und Glauben findet außerdem bei tatsächlichen Verständigungen Anwendung: Der BFH leitet die Bindungswirkung einer tatsächlichen Verständigung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ab (BFH v. 12.06.2017, III B 144/16, BStBl II 2017, 1165 m. w. N.; im Einzelnen s. Vor §§ 204–207 AO Rz. 15 ff., Rz. 29).

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