Tz. 39

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

§ 174 Abs. 3 AO regelt den Fall des negativen Widerstreits (s. Rz. 3). Ein solcher liegt vor, wenn ein bestimmter Sachverhalt in keinem von mehreren in Betracht zu ziehenden Steuerbescheiden (Feststellungsbescheiden) berücksichtigt worden ist, obwohl er in einem dieser Bescheide hätte berücksichtigt werden müssen (z. B. BFH v. 14.01.2010, IV R 33/07, BStBl II 2010, 586; BFH v. 14. Januar 2010, IV R 55/07, BFH/NV 2010, 1075; BFH 27.08.2014, II R 43/12, BStBl II 2015, 241). Besondere Bedeutung hat die Vorschrift für die Einkommensbesteuerung. Aufgrund des Prinzips der Abschnittsbesteuerung können sich Zuordnungsprobleme ergeben, wenn unklar ist, in welchem Veranlagungszeitraum ein Sachverhalt steuerlich zu erfassen ist (von Wedelstädt in Gosch, § 174 AO Rz. 60). § 174 Abs. 3 AO soll verhindern, dass ein steuerlich erheblicher Sachverhalt bei der Besteuerung überhaupt nicht berücksichtigt wird (s. AEAO zu § 174, Nr. 6).

I. Tatbestand

1. Erkennbare Nichtberücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts

 

Tz. 40

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Voraussetzung ist zunächst, dass ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid nicht berücksichtigt wurde. Zum Begriff des "bestimmten Sachverhalts" s. Rz. 9 f. Nicht unter den Anwendungsbereich fällt eine etwaige irrige Rechtsauffassung der Finanzbehörde. Hat das FA in dem Verfahren über den Einspruch zu erkennen gegeben, dass es an seiner irrigen Rechtsauffassung nicht mehr festhalte, findet § 174 Abs. 3 AO keine Anwendung. Der Stpfl. kann diese geänderte Rechtsauffassung in dem Verfahren um den Einspruch überprüfen lassen; der die Änderungsmöglichkeit des § 174 Abs. 3 AO legitimierende Vertrauensschutzgedanke trägt nicht, wenn der Betroffene die Möglichkeit hat, verfahrensrechtlich gegen die Auffassung des FA vorzugehen (BFH v. 06.12.2006, XI R 62/05, BStBl II 2007, 238).

 

Tz. 41

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Nicht berücksichtigt ist ein Sachverhalt, wenn er in die Entscheidungsfindung über den Bescheid nicht mit einbezogen, mithin keine Regelung über ihn getroffen wurde (Koenig in Koenig, § 174 Rz. 42). Der Sachverhalt muss dem FA bekannt gewesen, aber dennoch steuerlich nicht abschließend geregelt worden sein. Ist der Sachverhalt dem FA nicht bekannt, kann er nicht Gegenstand der fehlerhaften Zuordnung sein (BFH v. 29.05.2001, VIII R 19/00, BStBl II 2001, 743; BFH v. 11.08.2011, V R 54/10, BFH/NV 2011, 2017). Unerheblich ist, ob die Nichtberücksichtigung anfänglich oder nachträglich durch Änderung eines Steuerbescheides eingetreten ist. Hat sich ein Sachverhalt auf den Steuerbescheid zwar nicht ausgewirkt, wurde jedoch festgestellt, dass er in den Regelungsbereich des Steuerbescheides gehört, ist eine Nichtberücksichtigung nicht anzunehmen (s. Rz. 14; BFH v. 29.05.2001, VIII R 19/00, BStBl II 2001, 743).

 

Tz. 42

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Änderungsmöglichkeit des § 174 Abs. 3 AO setzt – wie § 174 Abs. 1 und 2 AO – die alternative und nicht eine kumulative Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung eines Sachverhaltes voraus (BFH v. 15.02.2001, IV R 9/00, BFH/NV 2001, 1007). Nicht einschlägig ist die Norm daher bei einer fehlerhaften Doppelberücksichtigung.

2. "In der Annahme, dass er in einem anderen Bescheid zu berücksichtigen sei"

 

Tz. 43

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Berücksichtigung des bestimmten Sachverhaltes muss in der Annahme unterblieben sein, dass der Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid, nämlich eines anderen Stpfl., eines anderen Veranlagungszeitraums oder einer anderen Steuerart zu berücksichtigen sei. Hierüber muss das FA eine konkrete Vorstellung gehabt haben, ein bloßes Versehen oder ein die Zuordnung betreffender Rechtsirrtum ist nicht ausreichend. Maßgeblich ist die Vorstellung des für die Steuerfestsetzung zuständigen Amtsträgers (BFH v. 03.03.2005, V B 1/04, BFH/NV 2005, 1222; kritisch: von Groll in HHSp, § 174 AO Rz. 186). "Annahme" setzt einen über die rein mechanische Übernahme eines aufseiten des Stpfl. aufgetretenen Fehlers hinausgehenden kognitiven Prozess voraus (vgl. Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 174 AO Rz 105). Die mangelnde Kenntnis davon schließt die Anwendung des § 174 Abs. 3 AO daher denklogisch aus (BFH v. 17.05.2017, X R 45/16, BFH/NV 2018, 10). Nicht erforderlich ist, dass der Sachverhalt auch in dem anderen Bescheid berücksichtigt oder dass dieser Bescheid überhaupt erlassen wurde (BFH v. 29.05.2001, VIII R 19/00, BStBl II 2001, 743; s. AEAO zu § 174, Nr. 6 Abs. 1). Die – jeder Verstrickung immanente – Annahme, dass stille Reserven früher oder später realisiert werden, reicht für die nach § 174 Abs. 3 AO erforderliche Annahme einer Berücksichtigung in einem anderen Steuerbescheid nicht aus (von Wedelstädt in Gosch, § 174 AO Rz. 71). Die Ansicht des BMF, stille Reserven, die auf eine GbR übergegangen sind, die bisher irrigerweise als gewerblich angesehen worden ist, könnten durch Änderung der entsprechenden Steuerbescheide nach § 174 Abs. 3 AO noch besteuert werden (BMF v. 28.08.2001, IV A 6 – S 2240–49/01, BStBl I 2001, 614; ernstliche Zweifel hieran BFH v. 27.01.2004, X B 116/03, BFH/NV 2004, 913), ist daher abzulehnen. ...

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