Falsche zeitliche Zuordnung von Hinzuschätzungsbeträgen

Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der wegen eines Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten geändert wird, können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. So entschied das FG Münster.

Hinzuschätzungen nach einer Betriebsprüfung

Das Finanzamt stellte die Besteuerungsgrundlagen der Klägerin – einer GbR – für das Jahr 2008 zunächst erklärungsgemäß fest. Bei einer Betriebsprüfung stellte es für das Jahr 2008 erhebliche Bargeldfehlbeträge fest und nahm eine Hinzuschätzung bei den Erlösen von insgesamt 150.000 EUR vor, die es gleichmäßig auf die geprüften Jahre 2008 bis 2010 verteilte. Die Klägerin erhob gegen die geänderten Feststellungsbescheide 2009 und 2010 Einspruch mit der Begründung, die Hinzuschätzungen seien zu Unrecht erfolgt. Für das Streitjahr 2008 festgestellte Bargeldfehlbeträge könnten keine Hinzuschätzungen in den Folgejahren rechtfertigen. Das Finanzamt half den Einsprüchen ab und erließ zudem einen auf § 174 AO gestützten Änderungsbescheid für 2008, in dem es den bisher berücksichtigten Hinzuschätzungsbetrag um weitere 100.000 EUR erhöhte. Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg.

Bescheidänderung nach § 174 AO

Das FG hat dem Finanzamt Recht gegeben und entschieden, dass die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO im Hinblick auf den geänderten Feststellungsbescheid 2008 vorlagen, da die vom Finanzamt hinzugeschätzten (Bar-)Einnahmen einen Sachverhalt im Sinne des § 174 AO darstellten.

Ein bestimmter Sachverhalt in diesem Sinne sei jeder einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpfe. Erfasst würden nicht nur einzelne steuererhebliche Tatsachen, sondern der einheitliche, für die Besteuerung maßgebliche Sachverhaltskomplex. Der dem geänderten sowie der dem zu ändernden Steuerbescheid zugrunde liegende Sachverhalt müsse übereinstimmen, wobei eine vollständige Identität nicht erforderlich sei. Es könnten danach auch Schätzungsbescheide hierunter fallen, wenn die ihnen zugrunde gelegten Schätzungsgrundlagen den Sachverhaltsbegriff erfüllten, d. h. konkrete Einzelsachverhalte enthielten.

Vorliegend hätten die hinzugeschätzten (Bar)-Einnahmen konkrete Einzelsachverhalte betroffen, nämlich die jeweilige Erwirtschaftung einkommensteuerpflichtiger Einnahmen. Das Finanzamt habe auch – wie in § 174 Abs. 1 Satz 1 AO gefordert – aus dem Sachverhalt irrig steuerrechtliche Folgerungen gezogen, die sich nachträglich als unzutreffend erwiesen hätten. Es sei davon ausgegangen, dass 100.000 EUR der hinzuzuschätzenden (Bar)-Einnahmen steuerlich den Zeiträumen 2009 und 2010 zuzurechnen seien. Allerdings betreffe der Hinzuschätzungsbetrag ausschließlich (Bar)-Einnahmen, die bereits im Jahr 2008 erwirtschaftet worden seien. Allein in diesem Jahr seien Bargeldfehlbeträge festgestellt worden. Die irrige Zuordnung der hinzugeschätzten (Bar)-Einnahmen zu den Besteuerungszeiträumen 2009 und 2010 sei auch aufgrund des Einspruchs der Klägerin geändert worden, wie es § 174 Abs. 4 Satz 1 AO erfordere.

Materielle Richtigkeit durch § 174 AO

§ 174 AO eröffnet die Möglichkeit, der materiellen Richtigkeit Vorrang einzuräumen und Vorteile und Nachteile auszugleichen, die sich durch Steuerfestsetzungen ergeben, die inhaltlich einander widersprechen. Denn im Steuerrecht können Fälle auftreten, bei denen aus einem Sachverhalt steuerlich unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden, die sich denkgesetzlich gegenseitig ausschließen.

FG Münster Urteil vom 14.09.2021 - 2 K 1155/19 G,F (veröffentlicht am 15.10.2021)


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