Tz. 9

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Nach § 76 Abs. 1 Satz 5 FGO ist das Gericht nicht an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten gebunden. Dies ergibt sich als unmittelbare Folge des Untersuchungsgrundsatzes. Die Vorschrift ist allerdings dahingehend zu verstehen, dass das FG nicht auf die von den Beteiligten angebotenen Beweise beschränkt ist, sondern darüber hinaus gerade wegen seiner Ermittlungspflicht alle im Einzelfall gebotenen Beweise auch ohne Beweisanträge erheben muss, bis der Sachverhalt so vollständig wie möglich aufgeklärt ist (z. B. BFH v. 12.01.2011, VI B 97/10, BFH/NV 2011, 640). Der Stellung eines förmlichen "Antrags" bedarf es daher nicht (BFH v. 29.08.2001, XI R 26/99, BFH/NV 2002, 625; zur Gleichstellung von Antrag und Anregung BFH v. 11.07.1996, IV R 71/95, BFH/NV 1997, 103). Die Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 FGO erfordert vielmehr, dass das FG Tatsachen und Beweismitteln nachgeht, die sich ihm in Anbetracht der Umstände des Einzelfalles hätten aufdrängen müssen (st. Rspr., vgl. z. B. BFH v. 27.07.2016, V B 4/16, BFH/NV 2016, 1740). Es darf substantiierte Beweisanträge, die den entscheidungserheblichen Sachverhalt betreffen, grds. weder ablehnen noch übergehen (BFH v. 15.12.2016, VI B 50/16, BFH/NV 2017, 598; BFH v. 17.05.2017, II R 35/15, BStBl II 2017, 966). Auf eine beantragte Beweiserhebung darf das FG ausnahmsweise nur verzichten, wenn es nach der vom FG vertretenen Rechtsauffassung auf das Beweismittel nicht ankommt oder es die Richtigkeit der zu beweisenden Tatsache zugunsten des betreffenden Beteiligten unterstellt, das Beweismittel unerreichbar oder völlig ungeeignet ist (z. B. BFH v. 18.03.2013, III B 143/12, BFH/NV 2013, 963; BFH v. 02.10.2013, III B 56/13, BFH/NV 2014, 62; BFH v. 05.11.2013, VI B 86/13, BFH/NV 2014, 360) oder das Beweismittel unzulässig ist (Bsp.: kein Ersatz des Buchnachweises durch Zeugenbeweis, z. B. für private Pkw-Nutzung: BFH v. 01.12.2015, X B 29/15, BFH/NV 2016, 395; zum Ganzen z. B. BFH v. 12.02.2018, X B 64/17, BFH/NV 2018, 538; Seer in Tipke/Kruse, § 81 FGO Rz. 48). Des Weiteren ist das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen (BFH v. 13.03.1996, II R 39/94, BFH/NV 1996, 757; BFH v. 29.08.2001, XI R 26/99, BFH/NV 2002, 625). Ein Beweisantrag ist unsubstantiiert, wenn er insbes. nicht angibt, welche konkrete Tatsache durch welches Beweismittel nachgewiesen werden soll (z. B. BFH v. 01.03.2016, V B 44/15, BFH/NV 2016, 934; BFH v. 17.05.2017, II R 35/15, BStBl II 2017, 966). Unzulässig und daher vom FG abzulehnen ist auch ein Beweisantrag, der auf einen Ausforschungsbeweis gerichtet ist (z. B. BFH v. 27.04.2010, X B 163/08, BFH/NV 2010, 1639; BFH v. 17.11.2010, III B 158/09, BFH/NV 2011, 299; BFH v. 14.03.2017, VIII R 32/14, BFH/NV 2017, 1174), der "ins Blaue hinein" gestellt wird (BFH v. 02.10.2012, IX B 11/12, BFH/NV 2013, 218) oder der die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann (BFH v. 16.05.2013, X B 131/12, BFH/NV 2013, 1260). Allerdings ist das FG bei ungenügender Konkretisierung des Beweisantrages nach § 76 Abs. 2 FGO gehalten, auf eine Erläuterung und Klarstellung des Beweisthemas und des Beweisangebotes hinzuwirken, bevor es von der Beweiserhebung absieht (BFH v. 06.05.1999, VII R 59/98, BFH/NV 2000, 49). Es muss dabei beachten, dass § 155 Satz 1 FGO i. V. m. § 373 ZPO nicht gebietet, dass der Beweisantragsteller den gesamten Inhalt der künftigen Zeugenaussage durch detaillierte Angaben in seinem Beweisantrag vorwegzunehmen hätte (BFH v. 16.05.2013, X B 131/12, BFH/NV 2013, 1260). Das FG ist jedoch nicht verpflichtet, die Beteiligten zu einer Substantiierung ihres Sachvortrags zu veranlassen, wenn die rechtliche Bedeutung der vorzutragenden Tatsachen für den Ausgang des Klageverfahrens auf der Hand liegt; das gilt insbes. dann, wenn der Kläger steuerlich bzw. anwaltlich beraten und im Prozess entsprechend vertreten ist (BFH v. 16.10.2012, VIII B 42/12, BFH/NV 2013, 381; BFH v. 17.04.2013, VIII B 161/11, BFH/NV 2013, 1266). Beweise werden nur über Tatsachen erhoben. Daher ist ein Beweisantrag, der überwiegend Rechtsfragen betrifft, einer Beweiserhebung nicht zugänglich und darf vom FG rechtsfehlerfrei zurückgewiesen werden (BFH v. 06.12.2012, I B 8/12, BFH/NV 2013, 703). Die Zurückweisung eines Beweisantrags bedarf keines besonderen Beschlusses; vielmehr ist das FG befugt, das Absehen von einer Beweisaufnahme in dem Urteil selbst zu begründen (BFH v. 09.12.2002, III B 61/02, BFH/NV 2003, 470). Der Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung bedeutet nicht, dass das Gericht von der gebotenen Sachverhaltsermittlung und Beweiserhebung absehen kann (BFH v. 04.04.2002, I B 140/01, BFH/NV 2002, 1179; vgl. aber BFH v. 29.06.2010, III B 168/09, BFH/NV 2010, 1847; BFH v. 16.02.2011, X B 133/10, BFH/NV 2011, 995).

 

Tz. 10

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Daher liegt ein Verfahrensfehler vor, wenn das Gericht Tatsachen, für...

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