Tz. 5

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Sämtliche Prozessordnungen und Verwaltungsverfahrensgesetze sehen die Berichtigung wegen offenbarer Unrichtigkeit vor: § 319 ZPO, § 118 Abs. 1 VwGO, § 138 Satz 1 SGG, § 107 Abs. 1 FGO, § 42 VwVfG, § 38 SGB X. Der Begriff der offenbaren Unrichtigkeit in § 107 Abs. 1 FGO ist mit dem in § 129 AO identisch.

I. Offenbare Unrichtigkeit

 

Tz. 6

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Oberbegriff der Berichtigungsgründe, für die der Gesetzgeber explizit die "Schreib- oder Rechenfehler" als Untergruppe anführt, sind die "offenbaren Unrichtigkeiten". Der BFH definiert den Begriff der "offenbare Unrichtigkeiten" in ständiger Rechtsprechung als "mechanische Versehen" wie beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler, unabhängig von einem Verschulden des Bearbeiters (BFH v. 21.01.2010, III R 22/08, BFH/NV 2010, 1410). Dagegen schließen Fehler bei der Anwendung einer Rechtsnorm oder die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder Fehlers, die auf mangelnder Sachaufklärung bzw. Nichtbeachtung feststehender Tatsachen beruht, die Anwendung des § 129 AO aus. Besteht eine mehr als nur theoretische Möglichkeit eines Rechtsirrtums, ist nach Auffassung des BFH kein bloßes mechanisches Versehen und damit auch keine offenbare Unrichtigkeit gegeben (BFH v. 13.09.2005, X B 55/05, BFH/NV 2005, 2158; BFH v. 20.01.2006, III B 2/05, BFH/NV 2006, 910). Ob jede Möglichkeit eines Rechtsirrtums, eines Denkfehlers oder einer unvollständigen Sachaufklärung bzw. fehlerhaften Tatsachenwürdigung auszuschließen ist, beurteilt sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles, vor allem nach der Aktenlage. Dies ist eine Tatfrage, die revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist (s. § 118 Abs. 2 FGO; BFH v. 31.07.2006, VII B 287/05, BFH/NV 2006, 2030 f.). Der Ausgang eines Rechtsstreits über die Anwendbarkeit des § 129 AO ist deshalb kaum vorhersehbar. Nicht zuletzt hängt dieser von der Präferenz der Richter entweder für die Rechtssicherheit (Vertrauensschutz) oder für die Richtigkeit ab (Seer in Tipke/Kruse, § 129 AO Rz. 13). Nach den allgemeinen Beweislastregeln gehen Zweifel darüber, ob die Voraussetzungen des § 129 AO vorliegen, bei einer Berichtigung, die zu einer Erhöhung der Steuer führt, zulasten des Finanzamts, bzw. bei einer Berichtigung zugunsten des Steuerpflichtigen zu dessen Lasten. Es gelten die Regeln des Anscheinsbeweises (BFH v. 19.03.2009, IV R 84/06, BFH/NV 2009, 1394; von Wedelstädt in Gosch, § 129 AO Rz. 51; Ratschow in Klein, § 129 AO Rz. 23).

1. Mechanische Fehler

 

Tz. 7

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Mechanische Fehler können die Willensbildung beeinflusst haben, bzw. bei der Umsetzung der Willensentscheidung bis zur Bekanntgabe des Verwaltungsaktes unterlaufen. Der Fehler kann im Bereich der internen Aktenverfügung oder im bekannt gegebenen Verwaltungsakt enthalten sein. Mechanische Fehler unterscheiden sich von gedanklichen Fehlern, die in der Regel zu Rechtsfehlern führen und keine Unrichtigkeit darstellen, dadurch, dass sie unbewusst, gedankenlos, ohne weitere Prüfung erfolgen. Beispiele für mechanische Fehler sind neben den im Gesetz aufgeführten Schreib- und Rechenfehlern: Ver- oder Übersehen, Verwechseln, Vertauschen, falsches Über- oder Eintragen, Unterlassen wegen Vergessens (Seer in Tipke/Kruse, § 129 AO Rz. 9 f.). Als Rechenfehler werden jedoch nur mechanische Verfahrensfehler im Bereich der Grundrechenarten oder des Prozentrechnens angesehen, nicht jedoch Unrichtigkeiten bei schwierigen Rechenoperationen (BFH v. 29.03.1990, V R 27/85, BFH/NV 1992, 711; Seer in Tipke/Kruse, § 129 AO Rz. 9).

 

Tz. 8

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ein Verschulden der Finanzbehörde ist für die Berichtigung nicht erforderlich (von Wedelstädt in Gosch, § 129 AO Rz. 10 m. w. N.).

2. Rechtsfehler

 

Tz. 9

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ein Rechtsfehler und damit keine offenbare Unrichtigkeit liegt vor, wenn die mehr als theoretische Möglichkeit eines verfahrens- oder materiell-rechtlichen Fehlers besteht (BFH v. 17.05.2017, X R 45/16, BFH/NV 2018, 10). Dies ist zumindest dann der Fall, wenn der Unrichtigkeit eine bewusste – wenn auch einfache – Schlussfolgerung auf rechtlichem oder tatsächlichen Gebiet zugrunde liegt, zumindest eine entsprechende Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann und sich der Fehler nicht bloß als das Ergebnis einer von Bewusstseinsprozessen weitgehend unbeeinflussten bloßen Unachtsamkeit darstellt (von Wedelstädt in Gosch, § 129 AO Rz. 11; BFH v. 09.12.1998, II R 9/96, BFH/NV 1999, 899; 19.03.2009, IV R 84/06, BFH/NV 2009, 1394). Bei der Prüfung, ob die konkrete Möglichkeit eines Rechtsfehlers besteht, ist nicht eine völlig absurde oder abwegige Rechtsüberlegung durch das FA zu unterstellen. Abzustellen ist auf das Verhalten und die Kenntnisse eines Durchschnittsbearbeiters (von Wedelstädt in Gosch, § 129 AO Rz. 19).

 

Tz. 1...

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