Tz. 18

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ein von § 174 Abs. 1 AO geforderter Widerstreit liegt vor, wenn ein Sachverhalt in mehreren Steuerfestsetzungen berücksichtigt wurde, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen (§ 174 Abs. 1 AO, s. Rz. 2 ff.). Eine mehrfache Berücksichtigung des Sachverhaltes muss sich denkgesetzlich ausschließen, d. h. die mehrfachen Berücksichtigungen des Sachverhaltes müssen zueinander in einem Ausschließlichkeitsverhältnis stehen (sog. Kollision im Regelungsbereich der Steuerbescheide: BFH v. 11.07.1991, IV R 52/90, BStBl II 1992, 126; BFH v. 02.08.1994, VIII R 65/93, BStBl II 1995, 264; BFH v. 31.05.2005, IX B 187/03, BFH/NV 2005, 1489). Dies ist nicht der Fall, wenn der bestimmte Sachverhalt zulässigerweise in mehreren Steuerbescheiden berücksichtigt wird. Mangels Ausschließlichkeit ist § 174 Abs. 1 AO selbst dann nicht anzuwenden, wenn die zulässige Berücksichtigung in mehreren Bescheiden rechtlich nicht übereinstimmen (BFH v. 26.01.1994, X R 57/89, BStBl II 1994, 597; BFH v. 07.07.2004, X R 26/01, BStBl II 2005, 145; hierzu Mihm, AO-StB 2005, 43). Über § 174 Abs. 1 AO kann daher keine materiellrechtlich übereinstimmende Beurteilung eines Lebenssachverhaltes in mehreren Steuerbescheiden (korrespondierende Steuerfestsetzung) erreicht werden (s. Rz. 21).

 

Tz. 19

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Das Ausschließlichkeitsverhältnis führt dazu, dass die zusätzliche Berücksichtigung des Sachverhalts rechtswidrig ist. Ob dies der Fall ist richtet sich nach den Voraussetzungen der einzelnen Steuergesetze. Ein solches materiell-rechtliches Ausschließlichkeitsverhältnis liegt z. B. vor bei der Erfassung

  • ein und derselben Einnahmen in mehreren Veranlagungszeiträumen oder bei mehreren Stpfl.,
  • eines Vorteils bei der ErbSt und bei der ESt (FG Münster v. 08.12.1981, VI 393/77 E, EFG 1982, 352),
  • der Grundbesitzübertragung bei ErbSt und GrESt (FG Münster v. 08.11.1979, III 3796/78 Erb, EFG 1980, 370),
  • einer Lieferung bei USt und sonstigen Verkehrsteuern,
  • einer bestimmten Einnahme oder Betriebsausgabe, die sowohl in einem Feststellungsbescheid nach § 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO als auch im Folgebescheid erfasst wird (von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1140).
 

Tz. 20

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

§ 174 Abs. 1 AO setzt nicht voraus, dass die doppelte Erfassung des Sachverhaltes auf einer irrtümlichen Beurteilung beruht (BFH v. 06.09.1995, XI R 37/95, BStBl II 1996, 148; zu § 174 Abs. 2 AO). Die Korrekturmöglichkeit ist auch eröffnet bei willkürlicher und bewusster, in Kenntnis der Doppelberücksichtigung durchgeführten Steuerfestsetzung (von Wedelstädt in Gosch, § 174 AO Rz. 31). Dies ist bspw. der Fall, wenn ein Veräußerungsgewinn fälschlicherweise in einem vorangegangenen Zeitraum und anschließend in dem zutreffenden Veranlagungszeitraum erfasst wird. Die Korrektur der vorangegangenen Veranlagung erfolgt über § 174 Abs. 1 AO. Ebenso wenig erfordert § 174 Abs. 1 AO, dass sich die Berücksichtigung des Sachverhaltes bei der anderen Steuerfestsetzung durch eine höhere oder niedrigere Steuer ausgewirkt hat (von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1141).

 

Tz. 21

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Mangels Korrespondenzprinzip im ESt-Recht steht eine Steuerfestsetzung gegen einen Stpfl. in einen Veranlagungszeitraum der ESt-Festsetzung gegen einen anderen Stpfl. oder in einem anderen Veranlagungszeitraum nicht entgegen (Loose in Tipke/Kruse, § 174 AO Rz. 13). Kein Widerstreit liegt auch vor bei:

  • der lediglich nicht folgerichtigen Umsetzung einer Entscheidung in miteinander verknüpften Sachverhalten (Koenig in Koenig, § 174 AO Rz. 19),
  • der rechtswidrig unterschiedlichen Behandlung von Einnahmen und Ausgaben (FG Ha v. 18.04.1984, V 349/81, EFG 1984, 589),
  • der Behandlung von Zinsen als Einnahmen vom Kapitalvermögen beim Zahlungsempfänger, beim Zahlenden aber nicht als Betriebsausgabe (FG Ddorf v. 12.07.1990, 8 K 16/86 E, EFG 1991, 104),
  • der Erfassung eines Darlehens beim Darlehensgeber vermögensrechtlich als Forderung, beim Darlehensnehmer dagegen keine Erfassung als Schuld (FG Ha v. 23.08.1989, VII 9/89, EFG 1990, 208),
  • der Behandlung von Zahlungen beim Zahlungsempfänger als wiederkehrende Bezüge, ein Sonderausgabenabzug beim Zahlenden dagegen nicht zugelassen wird (FG Köln v. 19.05.1989, 11 K 31/86, EFG 1989, 493; BFH v. 26.01.1994, X R 57/89, BStBl II 1994, 597),
  • der Verfehlung der Wechselwirkung bei Mieter und Vermieter zwischen § 8 Nr. 7 GewStG und § 9 Nr. 4 GewStG (BFH v. 07.07.2004, X R 26/01, BStBl II 2005, 145),
  • der unterschiedlichen Bilanzierung von Schuld und Forderung (FG Ha v. 23.08.1989, VII 9/89, EFG 1990, 208),
  • der unterschiedlichen Behandlung einer Leistung in Bezug auf USt und Vorsteuer (Koenig in Koenig, § 174 AO Rz. 20).

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