Tz. 20

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ein wesentliches Anliegen der Modernisierung des Besteuerungsverfahrens ist die weitere Automatisierung der Veranlagungsverfahren. Die Zahl der vollständig automatisch bearbeiteten Steuererklärungen (§ 115 Abs. 4 AO) soll weiter wachsen und in vielen Bereichen die Regel werden. Damit verbunden ist die Folge, dass eine manuelle Bearbeitung des Steuerfalls in der Zukunft in einer Vielzahl von Fällen entfällt. Eine Sachaufklärung findet regelmäßig nicht (mehr) statt. Ohne Bearbeitung durch einen Amtsträger erfolgt eine Prüfung der Richtigkeit der vom Stpfl. eingereichten Erklärungen durch einen Bearbeiter nicht mehr. Um gleichwohl dem Verifikationsprinzip Rechnung zu tragen und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu sichern, sollen Risikomanagementsysteme eingesetzt werden, die automatisiert das Kontrollbedürfnis abdecken. Die gesetzliche Verankerung des Einsatzes von Risikomanagementsystemen ist der (vorläufige) Endpunkt einer Entwicklung, die schon in der Praxis zuletzt als sog. gewichtende Arbeitsweise zu einer unterschiedlichen Prüfdichte geführt hatte (zur Entwicklung Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 63). Nach dem Gesetzeswortlaut (§ 88 Abs. 5 Satz 1 AO) können die Finanzbehörden die Risikomanagementsysteme zur Beurteilung der Notwendigkeit weiterer Ermittlungen und Prüfungen einsetzen. Daraus folgt zweierlei: Zum einen steht der Einsatz grds. im Ermessen der Finanzbehörden. Damit sind Risikomanagementsysteme ein Teilbereich des Ermessens im Bereich der Sachaufklärung. Zum anderen sollten die Systeme de lege lata die Ermittlungen und weitere Aufklärungen (noch) nicht ersetzen, sondern (lediglich) weiteren Ermittlungsbedarf aufdecken. Daraus folgt, dass die Systeme gewährleisten müssen, dass nicht automatisch eine Vielzahl von Fällen in der Regel von einer Prüfung ausgeschlossen ist. Das System muss also Fälle auswählen, die zur Prüfung durch einen Amtsträger bereitgestellt ("ausgesteuert") werden. Risikomanagement ist also noch kein Teil eines gesetzlichen Selbstveranlagungsautomatismus.

Wie bei der individuellen Sachverhaltsermittlung und -prüfung soll nach § 88 Abs. 5 Satz 2 AO auch bei den Risikomanagementsystemen die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung berücksichtigt werden. Um den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gleichmäßigkeit und die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung Rechnung zu tragen, sieht § 88 Abs. 3 Satz 3 AO Mindestanforderungen vor, die ein Risikomanagement erfüllen muss. Der dort bestimmte Standard darf also zwar überschritten, aber nicht unterschritten werden. Die in § 88 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 bis 3 AO aufgeführten Standards dienen der Aussteuerung von Fällen zur Bearbeitung nach den allgemeinen Grundsätzen der Amtsermittlung nach Abs. 1 und 2. Durch eine Zufallsauswahl muss eine hinreichende Zahl von Fällen zur umfassenden Prüfung durch einen Amtsträger (§ 7 AO) ausgewählt werden (Nr. 1), die Prüfung der vom System als prüfungsbedürftig ausgesteuerten Sachverhalte durch einen Amtsträger muss erfolgen können (Nr. 2) und es muss gewährleistet sein, dass Amtsträger Fälle für eine umfassende Prüfung auswählen können (Nr. 3). § 88 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AO beinhaltet die Verpflichtung zur Qualitätssicherung der Risikosysteme; sie sind regelmäßig auf ihre Zielerfüllung zu überprüfen. Mit Zielerfüllung ist (vgl. BT-Drs. 18/7457, 69 f.) die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen gesetz- und gleichmäßiger Besteuerung einerseits und zeitnahem und wirtschaftlichem Verwaltungshandeln andererseits gemeint, zugleich sollen möglichst viele Risiken ausgeschlossen werden. Risikomanagement muss damit über eine Plausibilitätsprüfung hinausgehen. Dies soll durch die Risikofilter geschehen, in die verschiedene Faktoren Eingang finden. So sollen z. B. sowohl die Verkennzifferung der Erklärungen als auch die Einteilung in Risikoklassen ermöglichen, prüfwürdige Fälle aufzudecken. Auch die wirtschaftliche Bedeutung wie auch die Steuervita können als Faktoren von Bedeutung sein. Klare Vorgaben enthält das Gesetz nicht. Es ist weder geregelt, wann ein Fall durch das System als prüfungswürdig anzusehen ist, noch, wann eine hinreichende Zahl von Fällen zur Zufallsprüfung anzunehmen ist. Diese Beurteilung liegt damit allein im Ermessen der Finanzbehörden bei der "Einstellung" der Parameter der Risikosysteme.

 

Tz. 21

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Vor dem Hintergrund der weitgehenden – gewollten – Intransparenz stellt sich die Frage der Überprüfbarkeit der Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit der Risikomanagementsysteme. Da die Einzelheiten der Systeme nach § 88 Abs. 5 Satz 4 AO nicht veröffentlicht werden dürfen und in Verfahren vor den Finanzgerichten wie bei den Weisungen des Abs. 3 nach § 86 Abs. 2 Satz 2 FGO i. V. m. § 86 Abs. 3 FGO das sog. "In-camera-Verfahren" vorgesehen ist (s. auch Rz. 17), wird es in der Regel schwierig, zu prüfen, ob die von den Finanzbehörden in das Risikomanagement implementierten Filter und Risikofaktoren den Grundsätzen der Gleichmäßigkeit und Gese...

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