Rz. 28

[Autor/Stand] Tatbestandsmerkmale. In Anknüpfung an seine maßgeblich auf die Rs. Emsland-Stärke[2] zurückgehende ständige Rechtsprechung arbeitet der EuGH in den Danish Cases nochmals ausdrücklich die einheitlichen Tatbestandsvoraussetzungen eines Missbrauchs heraus (s. Rz. 30 ff.). Erforderlich für die Feststellung eines Missbrauchs ist das kumulative Erfüllen eines objektiven (vgl. Rz. 30) und eines subjektiven Merkmals (vgl. Rz. 31); kann entweder das objektive oder das subjektive Merkmal nicht festgestellt werden, liegt kein missbräuchliches Verhalten vor. Dabei überlappen sich die beiden Merkmale zum Teil[3] und lassen sich deshalb nicht immer strikt voneinander trennen, was auch die Ausführungen des EuGH in den Danish Cases zeigen. Die Feststellung eines Missbrauchs hat anhand eines Bündels an objektiven Indizien zu erfolgen, die in ihrer Gesamtheit hinreichend tragfähig auf das Vorliegen des objektiven und des subjektiven Elements schließen lassen (s. zum subjektiven Element Rz. 31; s. zu Beweislastfragen ausf. Rz. 40 ff.).[4]

 

Rz. 29

[Autor/Stand] Anwendungsbereich. Zunächst ist aber noch auf den Anwendungsbereich des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots hinzuweisen. Dieser erfasst nämlich nur Vorteile bzw. Rechte "aus dem Unionsrecht" (s. dazu ausf. Rz. 24). Dies können nicht nur unmittelbar sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechte sein (z.B. Grundfreiheiten, unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmungen), sondern insbesondere auch (mittelbar unionsrechtlich begründete) Rechte aus nationalen Normen, die in Richtlinien vorgesehene Rechte bzw. Vorteile im nationalen Recht umsetzen (z.B. § 43b, § 50g EStG; s. zu Einzelheiten Rz. 24). Insoweit ist der Anwendungsbereich des allgemeinen Missbrauchsverbots enger als derjenige des Art. 6 ATAD, der jeglichen steuerlichen Vorteil (auch aus Drittstaaten-DBA) umfasst.

 

Rz. 30

[Autor/Stand] Objektives Merkmal (Verfehlung des Normzwecks). Die Feststellung eines Missbrauchs setzt zum einen voraus, dass sich aus der Gesamtheit der objektiven Umstände des zu prüfenden Einzelfalls ergibt, dass das Ziel der geltend gemachten Unionsrechtsnorm trotz (formaler) Erfüllung ihrer Tatbestandsmerkmale nicht erreicht wird bzw. die Gewährung der vorteilhaften Rechtsfolge dem eigentlichen Ziel der konkreten Norm widerspricht.[7] Das Missbrauchsverbot soll verhindern, dass Vorschriften des Unionsrechts in einer Weise geltend gemacht werden, die mit ihrem Zweck in Widerspruch steht.[8] Die Prüfung des Missbrauchs ist daher in zweifacher Weise einzelfallbezogen:

  • Zum einen hängt die Schwelle des Missbrauchs stets von den spezifischen Zielen der in Rede stehenden Norm ab.[9]
  • Zum anderen muss aber auch eine Gesamtwürdigung des konkret zur Beurteilung vorliegenden Falles ergeben, dass diese Ziele durch die Gewährung des Vorteils oder Rechts in diesem konkreten Fall nicht erreicht werden.

Die Ziele einer Norm sind allgemein durch Auslegung zu ermitteln und betreffen in der Regel die konzeptionellen Wertungen einer Norm. Unionsrechtsnormen werden in aller Regel spezielle Ausprägungen des allgemeinen Ziels des Binnenmarktes (Art. 26 AEUV, Art. 3 Abs. 3 EUV) darstellen.[10] Dem objektiven Merkmal des Missbrauchsbegriffs kommt im Wesentlichen eine den Missbrauchsbegriff begrenzende Funktion zu: Ist das Verhalten des Steuerpflichtigen gerade in der betreffenden Unionsrechtsnorm (bzw. im Konzept des Binnenmarktes) angelegt bzw. hiervon geschützt, kann es keinen Missbrauch darstellen.[11] Oft findet sich in diesem Zusammenhang der vom EuGH in ständiger Rechtsprechung stets wiederholte Hinweis, dass allein das Bestreben des Steuerpflichtigen, das für ihn vorteilhafteste Steuersystem zu finden, keinen Missbrauch darstellt, sondern gerade vom Ziel des Binnenmarkts und den Grundfreiheiten gedeckt ist.[12] Dies gilt jedenfalls in den von den Grundfreiheiten beherrschten Bereichen, in denen keine Harmonisierung des Steuerrechts auf Unionsebene stattgefunden hat. Aber auch im Bereich des harmonisierten Steuerrechts sind Steuervorteile, die in der Struktur des Sekundärrechts angelegt sind, nicht missbräuchlich erlangt.[13] Hingegen widerspricht es regelmäßig einer Unionsrechtsnorm und dem Ziel des Binnenmarktes, wenn der Steuerpflichtige dessen Schutz nicht für eine freie Standortwahl für seine wirtschaftliche Tätigkeit beansprucht, sondern für eine rein künstliche Gestaltung[14], die darauf ausgerichtet ist, der Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zu entgehen. Insoweit kann man unterscheiden zwischen unionsrechtlich zulässiger Standortwahl, mit der als Annex eine Rechtswahl verbunden ist, und einer nicht geschützten reinen (willkürlichen) Rechtswahl, die ohne eine Entscheidung über die Standortwahl getroffen wird.[15] Das Unionsrecht soll dem Steuerpflichtigen daher nicht ermöglichen, unabhängig vom Standort seiner wirtschaftlichen Tätigkeit frei darüber zu entscheiden, wo nach welchem nationalen Steuerrecht seine Einkünfte besteuert werden.

 

Rz. 31

[Autor/Stand] Subjek...

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