Rz. 62

[Autor/Stand] Bedeutung. Art. 6 ATAD verpflichtet die Mitgliedstaaten im Bereich des Körperschaftsteuerrechts[2] (vgl. Art. 1 ATAD) dazu, allgemein steuerlichen Gestaltungsmissbrauch zu bekämpfen, indem bei der Berechnung der Körperschaftsteuer missbräuchliche Gestaltungen außer Acht zu lassen sind. Art. 6 ATAD hat für den (gegen § 50d Abs. 3 EStG rechtsschutzsuchenden) Steuerpflichtigen aber keine unmittelbare Bedeutung, da dieser für ihn nachteilig ist und ihm kein Recht gewährt, das er der Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG entgegenhalten könnte. Nach hier vertretener Auffassung stellt § 50d Abs. 3 EStG aber (teilweise) eine Umsetzung des Art. 6 ATAD dar (vgl. Rz. 66 ff.), sodass § 50d Abs. 3 EStG (teilweise) am Maßstab des Art. 6 ATAD richtlinienkonform auszulegen ist. Die Bedeutung des Art. 6 ATAD als Auslegungsmaßstab ist allerdings auf Fälle beschränkt, in denen § 50d Abs. 3 EStG einen Entlastungsanspruch versagt, der keine Umsetzung des Art. 5 MTR oder Art. 1 ZLR darstellt (s. zum Verhältnis von Art. 6 ATAD zu MTR, ZLR Rz. 70); dies sind insbesondere DBA-Ansprüche oder Ansprüche nach § 44a Abs. 9 EStG in Fällen mit Bezug zu Drittstaaten ("Drittstaatenfälle"). Art. 6 ATAD hat nicht zur Folge, dass daneben eine Prüfung des § 50d Abs. 3 EStG am Maßstab der Grundfreiheiten ausgeschlossen ist (s. ausf. Rz. 71). Die verpflichtende Zielvorgabe des Art. 6 ATAD hat folgenden Wortlaut:

Artikel 6

Allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch

(1) Liegt unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft, so berücksichtigen die Mitgliedstaaten diese bei der Berechnung der Körperschaftsteuerschuld nicht. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen.

(2) Für die Zwecke von Absatz 1 gilt eine Gestaltung oder eine Abfolge solcher Gestaltungen in dem Umfang als unangemessen, als sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.

(3) Bleiben Gestaltungen oder eine Abfolge solcher Gestaltungen gemäß Absatz 1 unberücksichtigt, so wird die Steuerschuld im Einklang mit nationalem Recht berechnet.

 

Rz. 63

[Autor/Stand] Auslegungsgrundsätze. Es ist davon auszugehen, dass der EuGH (auch) in Art. 6 ATAD ein Spiegelbild des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots erkennen und in diesem Sinne auslegen wird (vgl. Rz. 26).[4] Für die Auslegung des Begriffs der "wesentlichen Zwecke" kann auf die Rechtsprechung zum gleichlautenden Merkmal in Art. 15 Abs. 1 Buchst. a FRL zurückgegriffen werden.[5] Gleiches gilt für das Merkmal der "triftigen wirtschaftlichen Gründe", das gleichbedeutend auszulegen ist mit dem in Art. 15 Abs. 1 Buchst. a FRL enthaltenen Begriff der "vernünftigen wirtschaftlichen Gründe": Denn sowohl in der englischen als auch in der französischen Sprachfassung der ATAD und FRL sind beide Begriffe inhaltlich übereinstimmend mit "valid" bzw. "valable" übersetzt.[6] Das englische "valid" dürfte auch im deutschen mit valid übersetzt werden können, was "gültig, gesichert"[7] bedeutet. Zudem wurde in der Rs. X[8] zum Missbrauchsbegriff im Primärrecht der Begriff "valid commercial justification" mit "stichhaltigen wirtschaftlichen Grund" bzw. "justification commerciale valable" übersetzt. Die Begriffe "triftig", "vernünftig" und "stichhaltig" dürften daher inhaltlich gleich zu verstehen sein und nur das notwendige Überzeugungsmaß (Beweismaß) wiedergeben: Die wirtschaftlichen Gründe dürfen nicht nur vorgeschoben erscheinen, sondern müssen zur Überzeugungsbildung hinreichend (d.h. vernünftig, stichhaltig, gesichert etc.) sein. S. dazu auch § 50d Abs. 3 EStG Rz. 564.

 

Rz. 63.1

[Autor/Stand] Insbesondere: Relevanz ausländischer Steuervorteile. Der deutsche Gesetzgeber hat bei der Einfügung des § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. AbzstEntModG vorgebracht, dass Art. 6 ATAD auch ausländische Steuervorteile erfasse (s. auch § 50d Abs. 3 EStG Rz. 540).[10] Dies würde dazu führen, dass Art. 6 ATAD die Mitgliedstaaten auch dann zur belastenden Missbrauchsvermeidung verpflichtet, wenn nicht ihr eigenes Steueraufkommen, sondern das Steueraufkommen eines anderen Mitgliedstaats oder gar eines Drittstaats gefährdet ist. Bei näherer Analyse zeigt sich, dass Art. 6 ATAD richtigerweise nur – aus der Sicht des jeweiligen Anwenderstaats[11] – inländische (missbräuchlich erlangte) Steuervorteile erfasst: Zwar enthält der reine Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 ATAD keine ausdrückliche Beschränkung auf inländische Steuervorteile. Auf den ersten Blick scheint Art. 6 ATAD daher im Rahmen des subjektiven Elements auch eine Gestaltung zu erfassen, deren Hauptzweck nur die Erlangung eines ausländischen Steuervorteils ist. Doch zeigen die weiteren Tatbestandsmerkmale sowie die Systematik und der Zweck des Ar...

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