Zu den Grenzen der sog. „Missbrauchsrechtsprechung” des EuGH

[Ohne Titel]

RA FAStR FAStrafR Dr. Rainer Spatscheck / Prof. Dr. Bettina Spilker[*]

Seit Inkrafttreten des § 25f UStG wird in Fachkreisen darüber diskutiert, ob die Versagung des Vorsteuerabzugs als Sanktionsmittel bei Nichtanmeldung von Ausgangsumsätzen in Betracht kommt. Speziell wird dies von der Finanzverwaltung bei Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Einfuhrumsatzsteuer vertreten. Da die Einfuhrumsatzsteuer in § 25f UStG nicht erwähnt ist, käme nur eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung oder eine unmittelbare Berufung auf die "Missbrauchsrechtsprechung" des EuGH in Betracht. Beides ist jedoch abzulehnen.

[*] RA FAStR FAStrafR Dr. Rainer Spatscheck ist Partner der Kanzlei Kantenwein Zimmermann Spatscheck & Partner, München; Prof. Dr. Bettina Spilker ist apl. Professorin an der Universität Münster sowie Rechtsanwältin und Counsel der Kanzlei Kantenwein Zimmermann Spatscheck & Partner, München.

I. Einführung

Zum 1.1.2020 wurde § 25f UStG (Versagung des Vorsteuerabzugs und der Steuerbefreiung bei Beteiligung an einer Steuerhinterziehung) eingeführt.[1] Die Regelung beruht sowohl auf Art. 325 Abs. 1 AEUV als auch auf der sog. "Missbrauchsrechtsprechung" des EuGH.[2] Nach der Gesetzesbegründung soll § 25f UStG der Bekämpfung des "Umsatzsteuerbetrugs, insb. in Form von Ketten- und Karussellgeschäften", dienen.[3]

Liegen die Voraussetzungen des § 25f Abs. 1 Halbs. 1 vor, d.h. wusste der Unternehmer oder hätte er

"wissen müssen, dass er sich mit der von ihm erbrachten Leistung oder seinem Leistungsbezug an einem Umsatz beteiligt, bei dem der Leistende oder ein anderer Beteiligter auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe in eine begangene Hinterziehung von Umsatzsteuer oder Erlangung eines nicht gerechtfertigten Vorsteuerabzugs im Sinne des § 370 der Abgabenordnung oder in eine Schädigung des Umsatzsteueraufkommens im Sinne der §§ 26a, 26c einbezogen war",

ist Folgendes zu versagen (vgl. § 25f Abs. 1 Halbs. 2 UStG):

  • die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung (Nr. 1),
  • der Vorsteuerabzug für Leistungsbezüge (Nr. 2),
  • der Vorsteuerabzug für innergemeinschaftliche Erwerbe (Nr. 3) sowie
  • der Vorsteuerabzug für Leistungen i.S.d. § 13b UStG (Nr. 4).

Nicht genannt werden in § 25f UStG drittlandsbezogene Umsätze, d.h. insbesondere die Steuerbefreiung für Ausfuhrlieferungen (§ 4 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 6 UStG) sowie der Vorsteuerabzug im Zusammenhang mit der Einfuhrumsatzsteuer (§ 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG). Während es zu Ausfuhrlieferungen bereits höchstrichterliche Entscheidungen gibt (vgl. dazu unten, Gliederungspunkt II. 5.), ist umstritten, ob bei der Einfuhrumsatzsteuer die Versagung des Vorsteuerabzugs auf der Grundlage der "Missbrauchsrechtsprechung" oder in erweiternder Auslegung des § 25f UStG in Betracht kommt.

Nachfolgend wird zunächst ein Überblick über die wesentlichen Eckpunkte der Entwicklung der sog. "Missbrauchsrechtsprechung" gegeben. Sodann wird geprüft, ob es neben den ausdrücklich in § 25f UStG genannten Fällen weitere Anwendungsfälle der "Missbrauchsrechtsprechung" gibt. Dabei liegt der Fokus auf der Frage, ob es eine Rechtsgrundlage für die Versagung des Vorsteuerabzugs bei der Einfuhrumsatzsteuer gibt.

[1] Wäger, UR 2020 45; Reiß, UR 2020, 408.
[2] Treiber in Sölch/Ringleb, 94. EL März 2022, § 25f UStG Rz. 10.
[3] BT-Drucks. 19/13436, 160 f.

II. Entwicklung der "Missbrauchsrechtsprechung"

Bekämpfung von Steuerhinterziehung als Zielsetzung: Die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -missbrauch ist ein Ziel, das von der Richtlinie anerkannt und gefördert wird.[4] In Umsetzung dieses allgemeinen Ziels sind in den letzten Jahren insbesondere die nachfolgenden Entscheidungen ergangen.

[4] EuGH v. 12.1.2006 – C-354/03, DB 2006, 316; EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, DB 2006, 541; EuGH v. 6.7.2006 – C-439/04, C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594 = DStR 2006, 1274; EuGH v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, BStBl. II 2011, 846; EuGH v. 21.6.2012 – C-80/11, C-142/11 – Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 = DStRE 2012, 1336; EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13, C-164/13 – Schoenimport "Italmoda" Mariano Previti, UR 2015, 106 = MwStR 2015, 87.

1. EuGH Rs. Kittel und Recolta Recycling (C-439/04 und C-440/04)

Objektive Kriterien der Lieferung bei Steuerhinterziehung nicht gegeben: In den Rechtssachen Kittel und Recolta Recycling[5] stellte der EuGH klar, dass die objektiven Kriterien, auf denen der Begriff der Lieferung von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher ausführt, und der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit beruhen, nicht erfüllt sind, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht.

Das nationale Gericht müsse daher den Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug verweigern, wenn aufgrund objektiver Umstände feststehe, dass dieses Recht in betrügerischer Weise geltend gemacht wird.

Gleiches gelte, wenn ein Steuerpflichtiger wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist. In diesem Fall sei er als an der Hinterziehu...

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