Rz. 133

Dem Leistungsempfänger ist der Substanzwert eines Gegenstands übertragen, wenn er faktisch in die Lage versetzt wird, mit dem Gegenstand nach Belieben zu verfügen, insbesondere ihn wie ein Eigentümer zu nutzen und zu veräußern, und wenn er – dem wirtschaftlichen Eigentümer i. S. d. § 39 Abs. 2 Nr. 1 S. 1 AO vergleichbar – einen entsprechenden Herrschaftswillen ausübt.[1] Hierbei handelt es sich um einen tatsächlichen Vorgang, der in dem Augenblick eintritt, in dem der Leistungsempfänger über den gelieferten Gegenstand tatsächlich verfügen kann, gleichgültig, ob der Vorgang auf einer rechtlichen Grundlage beruht oder nicht; es kommt nicht darauf an, ob gleichzeitig auch das Eigentum übertragen wird oder nicht.[2]

Zwar wird die Verschaffung der Verfügungsmacht i. d. R. vom zivilrechtlichen Eigentumsübergang begleitet, sie ist hiermit jedoch nicht notwendigerweise verbunden.[3] Es reicht aus, dass dem Leistungsempfänger die faktische Verfügungsbefähigung über den Gegenstand eingeräumt wird; ein wie auch immer geartetes Recht dazu, also eine Verfügungsberechtigung (z. B. durch die Übertragung des Eigentums), ist nicht erforderlich.

Diese Auslegung entspricht dem Verständnis des EuGH[4] vom Lieferbegriff des Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL. Danach bezieht sich der Begriff "Lieferung eines Gegenstands" nicht auf die Eigentumsübertragung in den durch das anwendbare nationale Recht vorgesehenen Formen, sondern er umfasst jede Übertragung eines Gegenstands, die den Abnehmer ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre er sein Eigentümer. Es ist nach Auffassung des EuGH Sache der nationalen Gerichte, in jedem Einzelfall anhand des gegebenen Sachverhalts festzustellen, ob ein bestimmter Umsatz mit einem Gegenstand die Übertragung der Befähigung nach sich zieht, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen.

 

Rz. 134

Da die Verschaffung der Verfügungsmacht als tatsächlicher Vorgang nicht an die Eigentumsübertragung gebunden ist, kommen auch geschäftsunfähige oder in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkte Personen als Lieferer und (insbesondere) als Abnehmer in Betracht.

 

Rz. 135

Die Verschaffung der Verfügungsmacht setzt auch nicht voraus, dass der Lieferer das Eigentum an dem Gegenstand hat. Verkauft z. B. der Dieb oder Hehler einen gestohlenen Gegenstand, befähigt er den Erwerber, über den Gegenstand im eigenen Namen zu verfügen; er liefert also, obgleich er nach bürgerlichem Recht[5] weder selbst Eigentümer ist, noch das Eigentum übertragen kann.[6]

Als tatsächlicher Vorgang ist die Verschaffung der Verfügungsmacht ihrer Natur nach einer rechtsgeschäftlich vereinbarten Bedingung oder Befristung nicht zugänglich. Die Vereinbarung, dass die Verfügungsmacht erst übergehen soll, wenn der Liefergegenstand das Ausland erreicht hat, ist deshalb umsatzsteuerlich ohne Belang (und führt insbesondere nicht zu einer Verlagerung des Lieferorts), wenn der Gegenstand tatsächlich bereits im Inland übergeben wurde.[7]

 

Rz. 136

Der Übergang der Verfügungsmacht muss sich tatsächlich vollziehen; er kann nicht lediglich abstrakt vereinbart werden. Durch die bloße Vereinbarung eines Kaufs und gleichzeitigen Rückkaufs ohne Besitzerwechsel wird deshalb umsatzsteuerlich keine Verfügungsmacht am Gegenstand übertragen.[8] Dementsprechend nimmt die Finanzverwaltung zu Recht an, dass beim Kauf und sofortigen Rückkauf von Getreide und Vieh im Rahmen sog. Karussell- und Ringgeschäfte die beteiligten Landwirte und Landhändler keine Lieferungen bewirken.[9] Eine vergleichbare Rechtsfolge kann sich auch bei dem sog. "sale-and-lease-back" ergeben; vgl. dazu Rz. 188.

 

Rz. 137

Andererseits ist es für die Annahme einer Lieferung nicht erforderlich, dass der Abnehmer von der ihm übertragenen Verfügungsbefähigung in einer bestimmten Weise, etwa durch tatsächliche Verwendung des Gegenstands, Gebrauch macht. Ein Landwirt, der die von ihm aufgezogenen erntereifen Früchte mit der Maßgabe verkauft, dass der Erwerber die Früchte selbst abernten muss, bewirkt deshalb eine umsatzsteuerliche Lieferung auch dann, wenn der Abnehmer die Früchte mangels Absatzmöglichkeit auf dem Halm belässt. Der Entschluss, die Früchte auf dem Halm zu belassen, ist hier Ausdruck der dem Abnehmer übertragenen Verfügungsmacht.[10]

Der Verschaffung der Verfügungsmacht steht es ebenfalls nicht entgegen, wenn der Abnehmer in der Verwendung des ihm gelieferten Gegenstands durch eine behördliche Anordnung beschränkt ist.

 

Rz. 138

Der Lieferer kann dem Abnehmer allerdings nur dann die Verfügungsmacht über den Gegenstand verschaffen, wenn er sie zuvor selbst besaß.[11] Wie er sie erlangt hat, ob durch Rechtsgeschäft, Urerzeugung, Fruchtziehung, Aneignung einer herrenlosen Sache, Ersitzung und dgl. oder durch rechtswidrige Besitzergreifung (Diebstahl, Unterschlagung), spielt grundsätzlich keine Rolle.

 

Rz. 139

Durch die rechtsgeschäftliche Bestellung eines Pfandrechts nach §§ 1204ff. BGB wird dem Pfandgläubiger noch keine Verfügungsmacht an der Pfandsache verschafft, weil das Pfand...

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