2.2.2.1 Gewissheit (Vollbeweis)

 

Rz. 8

Das Gericht entscheidet gem. § 96 Abs. 1 S. 1 FGO nach seiner freien Überzeugung. Dieser Grundsatz bedeutet, dass das Gericht von dem Vorliegen der dem Urteil zugrunde gelegten Tatsachen überzeugt sein muss. Zur Überzeugungsbildung i. S. d. § 96 Abs. 1 S. 1 FGO ist erforderlich, dass der Tatrichter ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem persönlichen Gewissen unterworfen persönliche Gewissheit in einem Maße erlangt, dass er an sich mögliche Zweifel überwindet und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann. Der Richter darf dabei nicht eine von allen Zweifeln freie Überzeugung anstreben, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen vielmehr mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit überzeugen[1], der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.[2]

[1] BFH v. 20.5.2010, VI R 41/09, BStBl II 2010, 1022; BFH v. 24.3.1987, VII R 155/85, BFH/NV 1987, 560 m. w. N.; vgl. auch Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 65ff.
[2] Grundlegend BGH v. 17.2.1970, III ZR 139/67, BGHZ 53, 245.

2.2.2.2 Geringerer Überzeugungsgrad (reduziertes Beweismaß)?

 

Rz. 9

Zweifelhaft ist, ob ein geringerer Überzeugungsgrad außer in den gesetzlich zugelassenen Fällen ("Glaubhaftmachung") zur Tatsachenfeststellung ausreicht. Teilweise wird dies in Fällen der Verletzung von Mitwirkungspflichten[1] oder auch in Fällen der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen angenommen.[2] M. E. ist von einem geringeren Überzeugungsgrad außer in den gesetzlich vorgesehenen Fällen grundsätzlich zurückhaltend Gebrauch zu machen.[3] Jedenfalls sollte die Beweiswürdigung einer Beweismaßreduzierung vorrangig sein.[4]

[1] Vgl. z. B. die Nachweise bei Lange, in HHSp, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 63ff., Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 71; Schmidt-Troje, in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 61f.
[2] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 62, Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 69; Schmidt-Troje, in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 59.
[3] So auch Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 72.
[4] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 66, Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 72.

2.2.2.3 Glaubhaftmachung

 

Rz. 10

Reicht nach dem Verfahrensrecht statt des Nachweises von Tatsachen deren Glaubhaftmachung aus[1], kann sich das Gericht seine Überzeugung nach einem geringeren Überzeugungsgrad bilden. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht.[2] Allerdings erfordert die Glaubhaftmachung die nachvollziehbare, schlüssige und lückenlose Darstellung des Sachverhalts. Zur Glaubhaftmachung ist auch die Versicherung an Eides Statt zugelassen.[3]

[2] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 75; Stapperfend, in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 96 FGO Rz. 42.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge