2.1 Sollvorschrift

 

Rz. 5

§ 28 Abs. 1 VwVfG gewährt das rechtliche Gehör als verfahrensrechtlichen Anspruch ("ist"). Für das Besteuerungsverfahren sieht § 91 Abs. 1 S. 1 AO hingegen nur eine Sollvorschrift vor. Die Finanzbehörde "soll" dem Beteiligten vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts die Gelegenheit geben, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern. Es steht im pflichtgemäßen Ermessen[1] der Finanzbehörde, ob sie den Beteiligten anhört.[2] Der Finanzbehörde wird also keine strikte Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs auferlegt. Sollvorschriften räumen der Verwaltung allerdings nur ein stark eingeschränktes Ermessen ein (vgl. § 5 Rz. 16). Die Finanzbehörde darf nur in atypischen Ausnahmefällen von der für alle typischen Fälle angeordneten Rechtsfolge abweichen.[3] Im Regelfall reduziert sich das Ermessen deshalb auf Null[4], sodass im Ergebnis kein Unterschied zwischen § 91 Abs. 1 AO und § 28 Abs. 1 VwVfG besteht.

[2] Koenig/Hahlweg, AO, 4. Aufl. 2021, § 91 Rz. 19; Wagner, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 91 AO Rz. 3; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 8.
[3] Carl/Klos, INF 1995, 417; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 91 AO Rz. 2; Helsper, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 91 AO Rz. 5; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 91 Rz. 2; Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 44 m. w. N.
[4] Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 2.

2.2 Berechtigte

 

Rz. 6

Das Recht auf Gehör wird nur Beteiligten[1] eingeräumt (zum Begriff des Beteiligten vgl. § 78 Rz. 10ff.). Andere Personen (Dritte) können in einem fremden Verfahren keinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs geltend machen. Es steht der Finanzbehörde allerdings frei, im Rahmen des Besteuerungsverfahrens auch Nichtbeteiligte anzuhören. Die Ausübung des Anhörungsrechts stellt eine Mitwirkungshandlung dar, die Handlungsfähigkeit[2] des Beteiligten voraussetzt. Ist ein Beteiligter handlungsunfähig, so muss dem gesetzlichen Vertreter (z. B. den Eltern eines Minderjährigen oder dem Geschäftsführer einer GmbH) bzw. dem besonders Beauftragten Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden.[3] Dies gilt gleichermaßen bei der Bestellung eines Vertreters von Amts wegen.[4]

 

Rz. 7

Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist nicht deshalb verletzt, weil der ursprünglich Beteiligte wegen seines Todes nicht mehr gehört werden kann. Denn mit dem Tod des Beteiligten geht mit der Beteiligtenstellung zugleich der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs auf den Gesamtrechtsnachfolger über.[5] Im umgekehrten Fall steht einem Gesamtrechtsnachfolger auch dann noch ein Anhörungsrecht zu, wenn in einem den Erblasser betreffenden und gegen ihn begonnenen Verwaltungsverfahren dieser bereits gehört worden ist.[6]

 

Rz. 8

Ist für das Besteuerungsverfahren ein Bevollmächtigter[7] bestellt, so genügt es, diesem rechtliches Gehör zu gewähren.[8] Die Finanzbehörde kann sich aber auch unmittelbar an den Beteiligten wenden. Dieser kann nach wie vor persönlich Verfahrenshandlungen neben oder anstelle des Bevollmächtigten vornehmen. Ein eigenes Recht auf Anhörung hat der Bevollmächtigte im Verfahren des Vertretenen nicht.[9]

[3] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 91 AO Rz. 4; Koenig/Hahlweg, AO, 4. Aufl. 2021, § 91 Rz. 6; Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 39.
[5] BFH v. 27.8.1991, VIII R 84/89, BStBl II 1992, 9; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2021, § 91 Rz. 5; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 9.
[6] Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 41.
[8] BFH v. 30.7.1980, I R 148/79, BStBl II 1981, 3; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 7; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Aufl. 2022, § 28 VwVfG Rz. 23.
[9] BFH v. 21.8.1990, V B 46/90, BFH/NV 1990, 142; Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 40.

2.3 Gegenstand der Anhörung (§ 91 Abs. 1 Satz 1 AO)

2.3.1 Eingriffsakte

 

Rz. 9

Das Anhörungsrecht nach § 91 Abs. 1 S. 1 AO steht dem Beteiligten nur zu, wenn der Erlass eines in seine Rechte eingreifenden (belastenden) Verwaltungsakts be­vorsteht. Rechte i. d. S. sind alle subjektiv-öffentlichen Rechte einschließlich des Anspruchs auf fehlerfreie Ermessenausübung.[1] Es genügt, wenn nach dem voraussichtlichen Verfahrensgang mit einem Eingriff zu rechnen ist. Der Beteiligte soll auf das Verfahren Einfluss nehmen und gegen den potenziellen Eingriff noch geeignete Maßnahmen ergreifen können.[2] Dies wird z. B. der Fall sein bei einem nach § 362 Abs. 2 Satz 2 AO ausgesetzten Einspruchsverfahren, wenn das fragliche Gerichtsverfahren zugunsten des Einspruchsführers entschieden worden ist. Insbesondere wenn das Gerichtsverfahren eine längere Zeit angedauert hat, ist vor dem Erlass einer Einspruchsentscheidung dem Einspruchsführer die Möglichkeit zu geben, ergänzend zu anderen, den Einspruch tragenden Gesichtspunkten vorzutragen bzw. den Einspruch zurückzunehmen. Weiter macht der Verzicht auf eine vorherige Anhörung einen Haftungsbescheid nach § 191 AO rechtswidrig.[3]

In diesem Fall kommt allerdings eine Heilung nach § 126 Abs. 1 Nr. 3 AO rückwirkend in Betracht, wobei auch die Ablehnung eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung in Betracht kommt. Da...

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