Rz. 7

Das Ermessen ist von den unbestimmten Rechtsbegriffen zu unterscheiden. Während der Verwaltung durch eine Ermessensermächtigung auf der Rechtsfolgeseite die Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren gleichwertigen – jeweils rechtlich einwandfreien – Entscheidungen eingeräumt ist, ist die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe grundsätzlich Sache der Gerichte. Der unbestimmte Rechtsbegriff betrifft allein die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind solche, die wegen der in ihnen liegenden Generalisierung für den einzelnen Anwendungsfall keine eindeutige und endgültige Aussage ergeben und daher eine gewisse Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen. Derartige Begriffe bedürfen im Rahmen ihrer Auslegung einer Abwägung und Wertung mit dem Ziel, die für den zu entscheidenden Fall allein "richtige" Entscheidung zu treffen.[1] Die Verwaltung hat jedoch insoweit kein "Tatbestandsermessen" (vgl. Rz. 5), sondern trifft hier eine wegen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich unbeschränkt gerichtlich überprüfbare Entscheidung. Im Übrigen bestehen gegen die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe keine verfassungsrechtlichen Bedenken, sofern den Anforderungen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes sowie dem Gebot der Normenklarheit und Justiziabilität genügt ist.[2] Diesen Erfordernissen ist genügt, wenn sich unbestimmte Rechtsbegriffe durch Auslegung nach den Regeln der juristischen Methodik hinreichend konkretisieren lassen und verbleibende Ungewissheiten nicht die Vorhersehbarkeit und Justiziabilität staatlichen Handelns gefährden.[3] Zu unbestimmten Rechtsbegriffen in Gestalt sog. Typusbegriffe vgl. Rz. 158ff.

 

Rz. 8

Unbestimmte Rechtsbegriffe finden sich in der AO und in den Einzelsteuergesetzen in großer Anzahl und in verschiedenster Form. Fast alle unbestimmten Rechtsbegriffe des Steuerrechts sind sog. normative Rechtsbegriffe. Ihre Auslegung erfordert wertende Stellungnahmen mit subjektiven Elementen.[4] Diese sind allerdings fast immer durch die höchstrichterliche Rspr. weitgehend vorentschieden.

 

Rz. 9

Wichtige Beispiele unbestimmter Rechtsbegriffe der AO sind etwa die Steuervergütungen[5], das zwingende öffentliche Interesse[6], der Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts[7], der beherrschende Einfluss[8], der für die Besteuerung erhebliche Sachverhalt[9], das Verschulden[10], das grobe Verschulden[11], die grobe Fahrlässigkeit[12], die Entschuldbarkeit[13], die ähnliche offenbare Unrichtigkeit[14], die erhebliche Härte[15], die Unbilligkeit[16], das nachträgliche Bekanntwerden[17], der übliche Preis für Verbraucher.[18] Auch in den Einzelsteuergesetzen gibt es zahlreiche wichtige unbestimmte Rechtsbegriffe, wie z. B. die außergewöhnlichen Belastungen[19], die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer[20], den Unternehmer[21], die nachhaltige Tätigkeit[22], Beförderungsmittel[23], die verdeckte Gewinnausschüttung.[24]

 

Rz. 10

Nur in besonderen und Ausnahmefällen wird der Verwaltung durch einen unbestimmten Rechtsbegriff auch ein sog. Beurteilungsspielraum eingeräumt. Ein solcher eröffnet der Verwaltungsbehörde unter gewissen Voraussetzungen einen von den Gerichten nicht weiter überprüfbaren Spielraum eigener Wertung und Entscheidung[25]. Typische Beispiele hierfür sind Prüfungsleistungen, beamtenrechtliche Entscheidungen oder Prognoseentscheidungen.[26] Ein Beurteilungsspielraum ist dem Prüfer im Rahmen der Steuerberaterprüfung eröffnet.[27] Für das materielle Steuerrecht kommt ein Beurteilungsspielraum der Finanzverwaltung mit einer ihr insoweit zuzuerkennenden Letztentscheidungskompetenz nicht in Betracht.[28] Insbesondere rechtfertigen Schwierigkeiten bei der Ermittlung von Besteuerungsgrundlagen einen solchen Beurteilungsspielraum nicht.

[2] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 21; Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 40 Rz. 152 m. w. N.
[3] BVerfG v. 13.6.2007, 1 BvR 1550/03 u. a., BVerfGE 118, 168/188.
[4] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 19f.
[12] § 69 AO.
[25] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 22,

; Wernsmann in HHSp, AO/FGO, § 5 AO Rz. 68ff.Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 40 Rz. 158ff.

[26] Neumann, in Gosch, AO/FGO, § 5 AO Rz. 7f.
[28] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 24.

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