Rz. 123

Besondere Problemfragen im Spannungsfeld zwischen richterlicher Rechtsfortbildung einerseits und Gewaltenteilungsprinzip[1] sowie dem Vorrang des Gesetzes[2] andererseits werfen die sog. Nichtanwendungserlasse[3] auf, mit denen das BMF bei "missliebiger" BFH-Rechtsprechung die Finanzbehörden anweist, ein bestimmtes BFH-Urteil "nicht über den entschiedenen Fall" hinaus anzuwenden.[4] Die Finanzverwaltung bindet die Befolgung der BFH-Rechtsprechung an deren Veröffentlichung im BStBl II nur, "soweit hierzu kein ‚Nichtanwendungserlass’ ergangen ist".[5]

 

Rz. 124

Weder der Nichtanwendungserlass der Finanzverwaltung noch Gerichtsentscheidungen haben die Qualität einer Rechtsnorm i. S. d. § 4 AO. Ein Nichtanwendungserlass ist eine Weisung des BMF i. S. d. Art. 108 Abs. 3 S. 2 i. V. m. Art. 85 Abs. 3 GG[6] und bindet nur die Finanzverwaltung. Entscheidungen der Finanzgerichte wirken gem. § 110 FGO nur inter partes; eine Bindung der Finanzverwaltung an ein finanzgerichtliches Urteil tritt nur in den Grenzen der subjektiven und objektiven Rechtskraft ein. Im Rahmen ihrer Spruchtätigkeit sind Richter und Gerichte auch nicht zur Setzung eigener Rechtsnormen befugt; insbesondere sind höchstrichterliche (BFH-)Urteile kein Gesetzesrecht und erzeugen keine vergleichbare Rechtsbindung. Schon deshalb und ferner wegen der der Finanzverwaltung durch Art. 20 Abs. 3 GG übertragenen Verantwortung für den Verwaltungsvollzug gibt es für eine allgemeine Bindung der Finanzverwaltung an die BFH-Rechtsprechung keine Rechtsgrundlage.[7]

 

Rz. 125

Grundsätzlich verstoßen Nichtanwendungserlasse weder gegen das Rechtsstaatsprinzip noch gegen das Gewaltenteilungsprinzip oder das Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Jedoch ist zu verlangen, dass die Finanzverwaltung nur in begründeten Fällen von einem Nichtanwendungserlass Gebrauch macht und diesen auch im BStBl I veröffentlicht. In jedem Fall ist das FA aus Gründen effektiven Rechtsschutzes[8] verpflichtet, einen Stpfl. in einem Steuerbescheid aufgrund der Begründungspflicht[9] auf einen Nichtanwendungserlass hinzuweisen.

 

Rz. 126

Ob ein rechtswidriger Nichtanwendungserlass, wenn dem Stpfl. ein nachweisbarer Schaden entsteht, einen Amtshaftungsanspruch[10] auslösen kann, ist in der Rspr. nicht abschließend geklärt. Jedenfalls dürfte ein sachlich begründeter Nichtanwendungserlass einen solchen Anspruch nicht auslösen.[11]

127-132 einstweilen frei

[3] Zur Problematik näher Spindler, DStR 2007, 1061; Lange, NJW 2002, 3657.
[4] Z. B. BMF, BStBl I 2012, 119.
[5] Z. B. Vorwort zum ESTH 2014.
[6] Näher zur Verfahrensweise Wieland, DStR 2004, 1/5; Schenke, DStR 2015, 2135.
[7] Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 4 AO Rz. 341; Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 119; Schenke, DStR 2015, 2135.
[10] § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG.
[11] Generell verneinend Schenke, DStR 2015, 2135; Wieland, DStR 2004, 1/5; vorsichtiger Spindler, DStR 2007, 1061/1065 f.; Kohlhepp, DStR 2006, 549.

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