1 Allgemeines
1.1 Zweck und Wesen der Vorschrift
Rz. 1
Diese Vorschrift dient der Beschleunigung der ersten Steuerfestsetzung. Sie soll eine rasche Bearbeitung der eingehenden Steuererklärungen dadurch ermöglichen, dass die Steuer ohne besondere Prüfung aufgrund der Angaben des Stpfl. festgesetzt wird und die spätere Überprüfung vorbehalten bleibt. Die Vorschrift soll damit eine Steuerfestsetzung sicherstellen, die in zeitlicher Nähe zu dem Eintritt der steuerlichen Leistungsfähigkeit steht, die durch die Steuerfestsetzung besteuert wird. Eintritt der steuerlichen Leistungsfähigkeit und Festsetzung der Steuer sollen sich in zeitlicher Hinsicht soweit wie möglich decken.[1] Die Steuerfestsetzung ist im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens noch nicht endgültig, enthält daher u. U. noch nicht die tatsächlich entstandene Steuer. § 164 AO (und § 165 AO) steht daher im systematischen Zusammenhang mit den Vorschriften über Vorauszahlungen und Steuerabzug, die dem gleichen Zweck dienen und die ebenfalls nur zu einer vorläufigen Besteuerung führen.
Rz. 2
Zeitnahe erste Festsetzung der Steuer bedingt, dass die Übereinstimmung mit dem materiellen Recht nicht vollständig gewährleistet ist. Eine zeitnah festgesetzte Steuer kann unrichtig sein, da die für eine sorgfältige Prüfung erforderliche Zeit nicht zur Verfügung steht. Der Gesetzgeber nimmt damit in Kauf, dass die unter Vorbehalt festgesetzte Steuer (teilweise) unrichtig ist; der Grundsatz der tatbestandsmäßigen Besteuerung tritt also zurück. Dies bedingt wiederum, dass die Steuerfestsetzung nicht endgültig bestandskräftig werden kann. Für den Zeitraum des Bestehens des Vorbehalts ist eine uneingeschränkte Änderungsmöglichkeit gegeben. Die Einschränkung der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung bedingt damit eine Einschränkung der Rechtssicherheit. Der Gesetzgeber hat versucht, mit § 164 AO die beiden verfassungsrechtlichen Prinzipien der Richtigkeit der Besteuerung und der Rechtssicherheit durch einen Kompromiss in Einklang zu bringen.[2] Bei einer im Wesentlichen ohne eingehende Prüfung erfolgten ersten Steuerfestsetzung ist eine Einschränkung der Bestandskraft, wie sie durch § 164 Abs. 2 AO vorgesehen ist, verfassungsrechtlich geboten, da sonst die Gefahr eines strukturellen Vollzugsdefizits bestünde.
Rz. 3
Die Steuerfestsetzung unter Vorbehalt nach § 164 AO unterscheidet sich dadurch von der endgültigen Steuerfestsetzung nach § 155 AO. Die endgültige Steuerfestsetzung ist auf unmittelbare und sofortige Entscheidung über den Steueranspruch gerichtet, die dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit entspricht, die der Bestandskraft fähig ist und Rechtssicherheit bewirkt. Die Steuerfestsetzung unter Vorbehalt ist auf das gleiche Ziel gerichtet, ist also kein "aliud", erreicht dieses Ziel aber erst über mehrere Stufen.[3] Die Vorbehaltsfestsetzung entscheidet daher noch nicht endgültig über die Steuerbelastung. Diese Entscheidung fällt erst in weiteren Stufen des Verfahrens (letztlich durch Wegfall des Vorbehalts bei Eintreten der Festsetzungsverjährung). Auch insoweit bestehen Parallelen zu Vorauszahlungen und Steuerabzügen.
Rz. 4
Besondere Bedeutung gewinnt die Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung dadurch, dass Steuerfälle, bei denen eine Außenprüfung durchzuführen ist oder bei denen erkennbar erhebliche steuerliche Auswirkungen zu erwarten sind, regelmäßig ohne nähere Prüfung unter Vorbehalt der Nachprüfung veranlagt werden.
Rz. 5
Der Vorbehalt kann mit der Vorläufigkeit nach § 165 AO verbunden werden.[4]
1.2 Rechtsnatur des Vorbehalts
Rz. 6
Der Vorbehalt der Nachprüfung ist seiner Rechtsnatur nach kein selbstständiger Verwaltungsakt, sondern eine Nebenbestimmung zum Steuerbescheid i. S. d. § 120 Abs. 1 AO. Es handelt sich um eine unselbstständige Nebenbestimmung, die mit der Steuerfestsetzung eine Einheit bildet. Steuerfestsetzung und unselbstständige Nebenbestimmung sind in ihrem Schicksal voneinander abhängig, beide sind nur gemeinsam rechtmäßig oder rechtswidrig. Das bedeutet, dass die Rechtswidrigkeit der unselbstständigen Nebenbestimmung den ganzen Steuerbescheid ergreift. Das Rechtsschutzbegehren kann also nicht auf Beseitigung der Nebenbestimmung unter Aufrechterhaltung der Steuerfestsetzung gerichtet sein, sondern führt zur Aufhebung der Steuerfestsetzung einschließlich der Nebenbestimmung.[1]
Rz. 7
Die Anordnung des Vorbehalts der Nachprüfung als Nebenbestimmung i. S. d. § 120 AO gehört zu den im Verwaltungsakt (Steuerbescheid) getroffenen konstitutiven Entscheidungen; sie gehört zum verfügenden Teil des Verwaltungsakts. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, dass der Vorbehalt bereits aus dem Tenor der Entscheidung hervorgehen müsste. Es gibt keine Vorschrift, die eine Gliederung eines Steuerbescheids in Tenor und Gründe vorschreibt. Allein entscheidend ist, ob für den Stpfl. unzweideutig zu erkennen ist, dass der Verwaltungsakt unter dem Vorbehalt steh...
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