Rz. 58

Nach Art. 103 Abs. 2 GG, wortgleich mit § 1 StGB, darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (s. auch Rz. 14). Diese Regelung bezweckt für den Handelnden die Möglichkeit vorherzusehen, ob ein geplantes Verhalten strafbar ist. Sie bezieht sich sowohl auf die Begründung als auch auf die Verschärfung der Strafbarkeit, die auch in einer Änderung der ausfüllenden Bestimmungen zu einer Blankettvorschrift liegen können.[1] In den Schutzbereich der Regelung gehören nicht nur die eigentlichen Tatbestandsmerkmale der Straftat, sondern auch alle für die Strafe bedeutsamen Faktoren, wie z. B. persönliche Strafaufhebungs- oder -ausschließungsgründe oder objektive Bedingungen der Strafbarkeit.

Der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ist allerdings auf das materielle Strafrecht beschränkt, also auf die staatlichen Maßnahmen, die als repressive Reaktion auf ein tatbestandsmäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten eine Strafe verhängt.[2] Er erfasst somit weder die Maßregeln der Besserung und Sicherung[3] noch das Strafprozessrecht.

 

Rz. 59

Konkret verbietet der Grundsatz:

  • die Rückwirkung einer Strafvorschrift zuungunsten des Täters (s. Rz. 61ff.).
  • das Herausbilden und die Anwendung von Gewohnheitsrecht mit strafbegründendem oder strafverschärfendem Inhalt, da strafrechtliche Unrechtsfolgen nur aus einem geschriebenen Gesetz abgeleitet werden dürfen; Gewohnheitsrecht zugunsten des Täters – z. B. in Form des Rechtfertigungsgrunds der Einwilligung – ist hingegen zulässig.
  • zu unbestimmte Blankettvorschriften (s. Rz. 20ff.).
  • Analogieschlüsse, die zu einer Begründung oder Verschärfung der Strafe führen.[4]
 

Rz. 60

Das Analogieverbot hindert jedoch nicht die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe in Strafvorschriften. Diese ist zugunsten wie zuungunsten des Täters möglich, da auch Strafvorschriften nicht so präzise formuliert werden können, dass sie alle in Betracht kommenden Lebenssachverhalte eindeutig wiedergeben.[5] Eine Analogie liegt im Gegensatz zur Auslegung hingegen vor, wenn ein Merkmal eines Tatbestands oder ein Rechtssatz über den jeweiligen Wortsinn hinaus auf einen vom Gesetz nicht mehr erfassten, vergleichbaren Fall angewandt wird. Erst wenn die Auslegung den Wortsinn des Gesetzes als äußerste Grenze der Norminterpretation überschreitet, liegt ein Verstoß gegen das Analogieverbot vor.[6] Diese Grenze ist aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen.

[1] BGH v. 8.1.1965, 2 StR 49/64, BGHSt 20, 177.
[4] BVerfG v. 26.2.1969, 2 BvL 15/68, BVerfGE 25, 269.
[5] BGH v. 16.5.1984, 2 StR 525/83, HFR 1984, 439.
[6] BVerfG v. 26.10.2005, 2 BvR 720/04, n. v., Haufe-Index HI1479241.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge