2.1 Zielkonkretisierung nach Abs. 1 Satz 1

 

Rz. 3

Nach Abs. 1 Satz 1 werden heilpädagogische Leistungen an noch nicht eingeschulte Kinder erbracht. "Kinder" i. S. d. SGB IX sind Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Joussen, in: HK-SGB IX, § 56 Rz. 7). Eine gesetzliche Definition, was unter "heilpädagogischen Leistungen" zu verstehen ist, existiert nicht. Heilpädagogik ist die spezialisierte Erziehung, Unterrichtung und Fürsorge im Bezug auf behinderte Kinder und Jugendliche mit dem Ziel, eine eigenständige Teilnahme in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Ziel der Heilpädagogik ist die Herstellung oder Wiederherstellung der Bedingungen für eigene Selbstverwirklichung und Zugehörigkeit, für den Erwerb von Kompetenzen und Lebenssinn, also um ein Ganzwerden (so LSG Niedersachsen, Beschluss v. 15.2.2010, L 8 SO 359/N ER m. w. N.). Die Leistungen nach § 79 werden i. d. R. durch ausgebildete Heilpädagoginnen und-pädagogen erbracht. Eine ausschließliche Leistungserbringung durch diese Fachkräfte ist in der Vorschrift jedoch nicht vorgeschrieben, sondern auch durch Fachkräfte mit anderer Qualifikation (z. B. Psychologen) möglich (ebenso zur Vorgängervorschrift vgl. Joussen, in: HK-SGB IX, § 56 Rz. 6).

 

Rz. 4

Heilpädagogische Maßnahmen nach § 79 kommen nur für noch nicht eingeschulte Kinder in Betracht. Für die Leistungsgewährung kommt es demnach ausschließlich darauf an, ob das Kind noch nicht eingeschult ist, unabhängig von seinem tatsächlichem Alter. Der Gesetzgeber hat dies damit begründet, dass die Einschulung als zeitliche Begrenzung für die Leistungsgewährung besser als das schulpflichtige Alter geeignet sei, weil der Zeitpunkt der Einschulung bei behinderten und nichtbehinderten Kindern durchaus unterschiedlich sein kann. Mit dem Abstellen auf den Zeitpunkt der Einschulung könne bei der Hilfegewährung der individuelle Bedarf des Kindes besser berücksichtigt werden (BT-Drs. 14/5786 S. 29).

 

Rz. 5

Nach Auffassung des BVerwG kommt jedoch auch eine Erbringung heilpädagogischer Leistung in Betracht, wenn das Kind bereits eingeschult war und eine seiner Behinderung entsprechende Förderschule besuchte (BVerwG, Urteil v. 18.10.2012, 5 C 15/11). Diese auf Basis der bis zum 31.12.2017 ergangenen Rechtsprechung dürfte mit dem Wortlaut von § 79 nicht in Einklang zu bringen sein. Entgegen dem bisherigen § 55 Abs. 2 a. F. hat der Gesetzgeber nämlich auf das Wort "insbesondere" verzichtet.

 

Rz. 6

Heilpädagogische Leistungen an behinderte und schwerbehinderte Kinder werden erbracht, wenn "nach fachlicher Erkenntnis" zu erwarten ist, dass die Ziele in Satz 1 Nr. 1 und 2 erreicht werden. Die in Abs. 1 umschriebenen Ziele der Erbringung heilpädagogischer Leistungen bestehen alternativ in der Abwendung einer drohenden Behinderung oder der Verlangsamung des Verlaufs einer bereits eingetretenen Behinderung (Nr. 1), darüber hinaus in der Beseitigung oder Milderung der Folgen einer bereits eingetretenen Behinderung (Nr. 2). Es ist also eine Prognoseentscheidung zu treffen, ob die Zielerreichung realistisch ist. Hierbei ist die nach fachlicher – nicht nur ärztlicher – Erkenntnis zu erwartende Möglichkeit des Erreichens eines der vorgenannten Ziele ausreichend. Diese Möglichkeit ist i. d. R. durch Gutachten festzustellen (Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, § 56 Rz. 7; Joussen, in: HK-SGB IX, § 56 Rz. 6). Die Voraussetzungen für die Erbringung heilpädagogischer Leistungen ist damit sehr niedrig. Bei Minderjährigen wird regelmäßig davon ausgegangen, dass heilpädagogische Leistungen erfolgversprechend sind (Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, a. a. O., Rz. 8). .

2.2 Erbringung an noch nicht eingeschulte schwerst- und schwerstmehrfachbehinderte Kinder (Abs. 1 Satz 2)

 

Rz. 7

Nach Abs. 1 Satz 2 werden heilpädagogische Leistungen immer an schwerstbehinderte und schwerstmehrfachbehinderte Kinder, die noch nicht eingeschult sind, erbracht. Schwerstbehinderte Menschen sind definitorisch von behinderten bzw. schwerbehinderten Menschen abzugrenzen. Schwerstbehinderung ist gekennzeichnet durch mehrere komplexe Beeinträchtigungen sehr vieler Fähigkeiten des betroffenen Menschen auf emotionaler, kognitiver, körperlicher, sozialer und kommunikativer Ebene. Diese Regelung greift die gefestigte Rechtsprechung auf, die einen Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem BSHG bereits dann bejaht, wenn Aussicht auf spürbare Verbesserung – sei es auch nur im Bereich einfachster lebenspraktischer Fähigkeiten – besteht. Insbesondere bei Kindern ist immer von einer Förderbarkeit auszugehen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen Schwerstbehinderung oder Schwerstmehrfachbehinderung eines Kindes eine erhebliche Pflegebedürftigkeit zur Folge haben (z. B. Apallisches Syndrom). Diese stets anzunehmende Förderbarkeit ist dadurch klargestellt, dass Satz 2 den Leistungsträger verpflichtet, bei Vorliegen einer Schwerstbehinderung oder Schwerstmehrfachbehinderung immer die Leistung zu erbringen.

 

Rz. 8

Die Voraussetzung der Möglichkeit einer Milderung der Folgen einer Behinderung wird dabei unterstellt. Auf eine Abgrenzung zwischen der Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe kommt...

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