Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungswidrigkeit der gekürzten Pendlerpauschale und Vorlage des FG an das Bundesverfassungsgericht
Leitsatz (redaktionell)
- Das FG hält die ab 1.1.2007 geltende Regelung in § 9 Abs. 2 EStG, nach der die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nicht mehr als Werbungskosten qualifiziert werden, für verfassungswidrig.
- Die Neuregelung in § 9 Abs. 2 EStG ab 1.1.2007 verstößt gegen das objektive wie gegen das subjektive Nettoprinzip sowie gegen das Gebot der Folgerichtigkeit.
- Allein das Ziel der Haushaltskonsolidierung rechtfertigt die gesetzliche Neuregelung nicht.
- Der Umstand, dass Aufwendungen für Fahrten ab dem 21 km weiterhin steuermindernd „wie Werbungskosten” abgezogen werden können, ändert nichts an der grundsätzlichen Verfassungswidrigkeit der Vorschrift.
- Das FG holt nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i. V. mit § 80 BVerfGG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Vorlagefrage ein.
Normenkette
EStG § 9 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1
Streitjahr(e)
2007
Nachgehend
Tatbestand
A. Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen des Lohnsteuerermäßigungsverfahrens streitig, in welchem Umfang Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte steuermindernd berücksichtigt werden können.
Die Kläger sind Eheleute und erzielen jeweils Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit nach § 19 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Die Arbeitstelle des Klägers liegt 41 km in süd-westlicher Richtung, die der Klägerin 54 km in süd-östlicher Richtung vom gemeinsamen Wohnort der Ehegatten entfernt. Mit ihrem Antrag auf Lohnsteuerermäßigung beantragten die Kläger jeweils die Eintragung eines Freibetrages nach § 39 a Abs. 1 Nr. 1 EStG auf der Lohnsteuerkarte. Sie erklärten Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit einer einfachen Entfernung von 41 km (Ehemann) bzw. 54 km (Ehefrau) als Werbungskosten. Der Beklagte berücksichtigte die Fahrten für beide Ehegatten jeweils erst ab dem 21. Kilometer und trug den daraus folgenden Freibetrag unter Anrechnung des Werbungskostenpauschbetrages nach § 9 a Satz 1 Nr. 1 EStG jeweils auf der Lohnsteuerkarte ein. Den dagegen eingelegten Einspruch wies der Beklagte mit Einspruchsbescheid zurück und verwies zur Begründung auf die ab dem 01.01.2007 geltende Fassung des § 9 Abs. 2 EStG (Fassung des Steueränderungsgesetzes vom 19.07.2006, BGBl Teil I, Seite 1652).
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage. Im Klageverfahren begehren die Kläger weiterhin jeweils die Eintragung eines Freibetrages auf der Lohnsteuerkarte unter Berücksichtigung der Fahrtkosten für die gesamte Wegstrecke.
Die Kläger beantragen,
auf der Lohnsteuerkarte des Klägers einen Freibetrag in Höhe von 1.823 Euro sowie auf der Lohnsteuerkarte der Klägerin einen Freibetrag in Höhe von 2.693 Euro einzutragen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er beruft sich zur Begründung auf § 9 Abs. 2 EStG, wonach die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erst ab dem 21. Kilometer wie Werbungskosten abgezogen werden könnten.
Entscheidungsgründe
B. Entscheidungsgründe
Der Senat legt die Vorlagefrage dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. § 80 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) zur Entscheidung vor und setzt bis dahin das Verfahren aus.
Die Vorlage ist geboten, weil der beschließende Senat die Vorschrift des § 9 Abs. 2 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes vom 19.07.2006 (a.a.O.) insoweit für verfassungswidrig hält, als die Gesetzesänderung Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nicht mehr als Werbungskosten qualifiziert. Diese Regelung verstößt nach der Überzeugung des Senats gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Prinzip der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit sowie gegen das Gebot der Folgerichtigkeit.
I. Rechtsentwicklung der Vorschrift
Seit dem Einkommensteuergesetz 1920 (§ 13 Nr. 1d EStG, RGBl. 1920, S. 359) gehören zu den Werbungskosten auch die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. § 9 Satz 3 Nr. 4 EStG 1955 (Gesetz vom 16.12.1954, BGBl. 1954 I, S. 373) sah zum ersten Mal eine Pauschalierung der Fahrtkosten vor. Im Jahr 1955 wurde – verordnungsrechtlich - eine Begrenzung der abzugsfähigen Kosten auf 40 Kilometer eingeführt, die im Jahr 1967 (Gesetz vom 23.12.1966, BGBl. 1966 I, S. 702) in die gesetzlichen Regelungen übernommen wurde. Im Jahr 1970 (Gesetz vom 23.12.1970, BGBl. 1970 I, S. 856) wurde diese Begrenzung wieder aufgehoben. Ab 1988 änderte sich im Wesentlichen nur noch die Höhe der festgesetzten Pauschbeträge. Bis zum 31.12.2006 waren nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Werbungskosten auch, „Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte”, die mit der nach Satz 2 der Vorschrift geltenden Entfernungspauschale abgegolten waren.
Mit der ab dem 01.01.2007 geltenden Neuregelung durch das ...